Reaktionen der nichtjüdischen Harburger Bevölkerung auf die Ausschreitungen

Die Reaktionen innerhalb der Harburger Bevölkerung auf die Vorgänge der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 werden von verschiedenen Zeitzeugen sehr unterschiedlich beschrieben und gedeutet. Die "Harburger Anzeigen und Nachrichten", im Herbst 1938 mitten in einer widerlichen antisemitischen Kampagne begriffen, schilderten in ihrer Ausgabe vom 11. November 1938 die Ereignisse in der ihr damals eigenen Diktion:

»Volkskundgebung gegen den jüdischen Meuchelmord. Die unerhört freche und feige Bluttat des Juden Grünspan, dem ein hoffnungsvoller deutscher Diplomat […] zum Opfer fiel, hat begreiflicherweise in ganz Deutschland die hellste Entrüstung hervorgerufen. Immer klarer wird der deutsche Standpunkt durch die Erfahrungen unterstrichen, dass für die Angehörigen dieses Parasytenvolkes [sic!] im Deutschen Reiche kein Platz mehr ist. Diese verständliche Empörung machte sich auch gestern noch in spontanen Kundgebungen bemerkbar, die in zahlreichen Orten des Reiches in Erscheinung traten. Auch in Hamburg und im Stadtteil Harburg kam die Entrüstung über dieses Verbrechen jüdischen Hasses deutlich zum Ausdruck. Eine Volksmenge hatte sich zusammengefunden, um in aller Öffentlichkeit die Solidarität aller Deutschen in der Verurteilung dieses neuen schmachvollen Verbrechens zu bekunden. Vor den noch unter jüdischer Führung stehenden Geschäften und der Synagoge sowie der Grabkapelle auf dem Schwarzenberg hatte sich eine größere Menschenmenge eingefunden, die ihrem Abscheu drastischen Ausdruck verlieh. Es ist der dem deutschen Volke im nationalsozialistischen Staate anerzogenen Disziplin zu danken, dass größere Ausschreitungen vermieden wurden. Immerhin dürften auch die Juden in Hamburg und im Stadtteil Harburg nunmehr erfahren haben, dass es mit der Geduld des deutschen Volkes zu Ende ist. Im übrigen vertraut das deutsche Volk in starker Geschlossenheit seiner Regierung, dass sie, wie Dr. Goebbels gestern Nachmittag bereits verkünden ließ, die notwendigen Maßnahmen ergreifen wird, um das deutsche Volk ein für allemal von der jüdischen Weltpest zu befreien.«

Dass es sich bei den Ausschreitungen um

Es lässt sich kaum klären, wie viele sich an den Zerstörungen, wie viele an dem Geschehen drumherum, beteiligten. Die Aussagen von Zeitzeugen zu dieser Frage mögen immer auch perspektivisch verzerrt sein (und das ist kein alleiniges Problem des Zeitzeugenberichtes aus jener Periode und jenem Kontext), mögen in diesem Fall sogar noch stärker den Rechtfertigungszwängen unterliegen, die auf die Singularität jenes Geschehens zurückgehen.

Es lassen sich mehrere verschiedene Antworten auf die Frage der Beteiligung denken, die jeweils anderen gesellschaftlichen und geschichtlichen Befindlichkeiten entspringen:

Die Wahrheit mag irgendwo dazwischen liegen.

Das retrospektive Urteil der Zeitzeugen darüber, wie die Mehrheit über die Ausschreitungen dachte, weiß von Auschwitz, und auch dieses Wissen mag die Erinnerung überformen.

Das Eingeständnis zum Beispiel, damals selber Antisemit gewesen zu sein, wird vor dem Hintergrund schwerer, von Auschwitz zu wissen.

Und schließlich mag der oft kolportierte, von Zeitzeugen empfundene vermeintliche oder tatsächliche Vorwurf in der Frage, wie sie sich denn dazu gestellt haben, wieder andere Abwehrmechanismen begründen, die in die Beantwortung einfließen.

Dass es sicher nicht der von den Nazis beschworene

»Die Dinge waren geplant, es waren wohl vorzugsweise SA-Leute oder einige SA-Führer mit ihren Leuten, die diese Dinge dann in Gang gebracht haben. Bloß, die Leute standen ja dann dabei, und es war immerhin eine gaffende Masse. Es waren Menschenmassen, sie gafften so ähnlich, wie es heute bei einem Unglück ist, wo sie der Polizei und dem Rettungswesen im Wege stehen, nur um ja alles mitzubekommen und ihre unmaßgebliche Meinung dazuzugeben. Und damals wenn man das überspitzen sagen will, war es erst ein Übergang, übermütige Stimmung, besonders der Jugendlichen und Heranwachsenden, und im übrigen fast eine Art Volksfeststimmung. Kritische Stimmung, oder gar Protest dagegen, davon kann gar keine Rede sein. […] Wenn ich mich an Äußerungen am Ort erinnere, dann war das im Grunde eigentlich, kann man zusammenfassend sagen: ‚Denen hat man’s doch mal gezeigt’ oder ‚Denen haben wir es gezeigt’.«

Er legt ein größeres Gewicht auf die indifferenten bis affirmativen Reaktionen. Der Sozialdemokrat Hermann Westphal erinnert sich deutlicher an Ablehnung in der Harburger Bevölkerung, aber auch an eine Erstarrung und Erschütterung bei einigen der Zuschauer:

»Allgemein war der Eindruck doch, dass die Leute betroffen waren und auch empört waren, dass man sich an einem jüdischen Gotteshaus vergriffen hatte, und auch hier, auf dem Friedhof, das ist doch auch damals noch den Leuten etwas gewesen, ich will nicht sagen, was ihnen heilig war, wo sie doch sicher mit Ehrfurcht draufgeschaut haben. Und das Verwerfliche war hier noch, dass der jüdische Leichenwagen auf diesen Schwarzenbergplatz gefahren wurde - der Schwarzenbergplatz ist so ein großer Festplatz, auf dem auch immer das Harburger Vogelschießen stattfindet, der hieß damals Hermann-Göring-Platz - und dass die Hitlerjugend, Jungs und Mädchen, BDM oder wie, die hatten einen großen Kreis gebildet und hatten den Wagen angesteckt und sangen nun Lieder, ‚Flamme empor’ und diese nationalsozialistischen Lieder, hatten sich angefasst und sangen das. Ich glaube, dass eigentlich diese Ereignisse oben beim jüdischen Friedhof, wo dann auch noch die Grabsteine umgestürzt wurden, dass die eigentlich bei der Bevölkerung mehr Unwillen hervorgerufen haben, jedenfalls bei der Harburger Bevölkerung, als die Zerstörung der Synagoge selbst, weil die ja eigentlich noch in ihrem Äußeren erhalten war, da waren ja nur die Fenster zerstört und die Türen eingeschlagen. Aber man konnte ja sonst auch nicht rein, war ja ein Gitter drum, es war nicht so sichtbar, während doch hier oben - und vor Toten hat man ja doch etwas mehr Ehrfurcht, oder vor Friedhöfen - das hat eigentlich doch die Harburger sehr geschockt, das muss ich sagen.«

Mit der Schändung des Friedhofes und der Synagoge hatten die Nazis - wie z.B. Hermann Westphal deutlich macht - ein Tabu gebrochen, dass auch für viele Harburger noch 1938 als Tabu galt, deren Anteilnahme den Juden nur bedingt galt:

»Auch die Reaktion am nächsten Tag fing bei den Harburgern erst so recht an, die gingen dann da hin, das war dann so, man musste das mal gesehen haben, man ging dann dahin und schaute sich das an und war doch sehr erschüttert.

Claus Günther, Sohn eines SA-Mannes, berichtete von der empörten Reaktion eines seiner Lehrer auf die Friedhofsschändung:

»Unser Lehrer hat gesagt: ‚Das hätten sie nicht tun dürfen. Tote muss man ruhen lassen.’ Als ich meiner Mutter davon erzählte, erschrak sie und meinte, dafür könne der Lehrer ins KZ kommen. Das KZ, wusste ich, war ein Arbeitslager.«

Die Stimmung am 10.November selbst beschreibt Henny Gr., deren Eltern einen Friseursalon in der Bergstraße hatten, als überaus bedrückend:

»Ich fand das so furchtbar, und da habe ich mich zurückgezogen. Die Leute waren etwas zurückhaltend, das waren nicht viele. Ich stand auf dem Bürgersteig und habe gesehen, wie die mit Büchern rumschmissen. Die Leute rundum waren wohl betroffen, verstört. Aber es wagte ja keiner was, was sollte man auch machen? Ich fand das so furchtbar!

Wenn der einzelne sich vor einer eindeutigen Stellungnahme fürchtete, so wünschte sich mancher Opponent, wie etwa Hermann Westphal, doch wenigstens eine Stellungnahme derer, die es sich vielleicht noch eher hätten leisten können, ob die Kirchen oder die Herren aus den Harburger Handelskammer:

»Und wir haben uns eigentlich damals alle gewundert, dass von den Kirchen beider Konfessionen überhaupt nichts passierte. Dass nicht ein Pastor oder ein Pfarrer den Mut hatte, um zu sagen: ‚Das geht nun doch wirklich zu weit!’ Oder in Harburg waren doch große Betriebe, da wohnten ja die Industriekapitäne, die Handelskammer, die Handwerkskammer - von keiner Seite kam irgendein Protest. Darüber wurde auch gemurrt. Das wurde auch öffentlich teilweise diskutiert.«

Im Archiv der evangelisch-lutherischen Kirche Harburgs etwa finden sich für die Jahre 1933 bis 1945 keine Hinweise, kein Protokoll, keine Randnotiz, die etwas zum Thema ergeben hätte. Auch sie zogen es vor, zu schweigen.

Schließen wir mit zwei kleinen Schilderungen von Claus Günther:

»Ein Polizist, hat mein Vater erzählt, habe die SA-Leute ermuntert mit den Worten: ‚Feste, feste drauf!‘ Die Polizei musste aufpassen, dass der Brand nicht auf die Nachbarhäuser übergriff und dass nichts wegkam. Mein Vater hätte gern so ein schönes altes Gebetbuch gehabt, in Leder gebunden, mit Goldschnitt, aber es musste halt alles ins Feuer.«

Die Geschehnissen des 10. November 1938 kollidierten für Claus Günther auf eine merkwürdige Weise mit etwas, das er gerade um die selbe Zeit herum zu begreifen begann:

»In der Lüneburger Straße und der Wilstorfer Straße waren in jüdischen Geschäften die Scheiben eingeschlagen; bei Lindor und Sally Laser hat es schlimm ausgesehen. Einen Tag vorher hatten wir dort noch eingekauft. Waren das denn alles Juden, auch die Verkäuferinnen? Das hätte ich nie gedacht; die sahen aus wie wir.«

Über die Täter...