Harburger Gedenken

von Dr. Matthias Heyl

Beitrag aus Anlass der Einweihung der Gedenktafeln für die Harburger Opfer des Nationalsozialismus im Harburger Rathaus, 9. November 2001


 

»Mein lieber Jonni! Du wirst wohl um mich besorgt gewesen sein, weil ich seit ungefähr 3 Monaten nicht auch mitgeschrieben habe. Du kannst jedoch beruhigt sein, da ich G'tt sei Dank wieder zuhause und gesund bin«, schrieb Karl Maidanek seinem Sohn John am 22. Januar 1939 aus Harburg ins ferne amerikanische Exil. Karl Maidanek war »G’tt sei Dank wieder zuhause«. Am 28. Oktober 1938, dem Tag, als seine Schwester Rebekka Rotter mit 18.000 anderen Juden polnischer Herkunft aus dem Deutschen Reich nach Polen abgeschoben wurde, schrieb er noch, dass er nun als Schammes, als Synagogendiener bei der jüdischen Gemeinde beschäftigt sei. »Die Dienstwohnung besteht aus drei großen Wohnzimmern, 1 große Küche und 1 Speisekammer, so dass sie für uns groß genug ist. Wir brauchen keine Miete zu zahlen und haben Gas, Licht und Heizung frei. Am 1.11.38 werden wir, so G'tt will, umziehen. Wir sind schon beim Einpacken.«

Zehn Tage nach dem Umzug, am 11. November 1938, hieß es in den altehrwürdigen »Harburger Anzeigen und Nachrichten« unter dem Titel »Volkskundgebung gegen den jüdischen Meuchelmord« über die Ereignisse, die zu Karl Maidaneks langem Schweigen führten, unter anderem:

»Die unerhört freche und feige Bluttat des Juden Grünspan, dem ein hoffnungsvoller deutscher Diplomat […] zum Opfer fiel, hat begreiflicherweise in ganz Deutschland die hellste Entrüstung hervorgerufen. Immer klarer wird der deutsche Standpunkt durch die Erfahrungen unterstrichen, dass für die Angehörigen dieses Parasytenvolkes im Deutschen Reiche kein Platz mehr ist. […] Auch in Hamburg und im Stadtteil Harburg kam die Entrüstung über dieses Verbrechen jüdischen Hasses deutlich zum Ausdruck. Eine Volksmenge hatte sich zusammengefunden, um in aller Öffentlichkeit die Solidarität aller Deutschen in der Verurteilung dieses neuen schmachvollen Verbrechens zu bekunden. Vor den noch unter jüdischer Führung stehenden Geschäften und der Synagoge sowie der Grabkapelle auf dem Schwarzenberg hatte sich eine größere Menschenmenge eingefunden, die ihrem Abscheu drastischen Ausdruck verlieh. […] Immerhin dürften auch die Juden in Hamburg und im Stadtteil Harburg nunmehr erfahren haben, dass es mit der Geduld des deutschen Volkes zu Ende ist. Im übrigen vertraut das deutsche Volk in starker Geschlossenheit seiner Regierung, dass sie, wie Dr. Goebbels gestern Nachmittag bereits verkünden ließ, die notwendigen Maßnahmen ergreifen wird, um das deutsche Volk ein für allemal von der jüdischen Weltpest zu befreien.«

Johanna Meier, eine Harburger Jüdin, der später die Emigration in die Schweiz glückte, erinnerte sich in ihren Memoiren: »Als der Tempeldiener, ein Jude, von der beabsichtigten Brandstiftung der Synagoge hörte, eilte er nach der Polizei. ›Schützen Sie uns, man will die Synagoge anzünden!‹ - ›Ja‹, sagten die Beamten lachend, ›wir wollen Sie schützen. Bleiben Sie nur gleich hier!‹ - und sie hielten ihn fest.«

Karl Maidanek wurde verhaftet und – wie etwa 30.000 andere jüdische Männer im ganzen Reich auch, in eines der deutschen Konzentrationslager verschleppt, aus denen die meisten »Schutzhäftlinge« Ende 1938, Anfang 1939 – zum Teil nur vorübergehend – wieder entlassen wurden.

Helene Maidanek, Karls Frau, befand sich währenddessen in Gesellschaft von zwei hinzugeeilten Bekannten in der Wohnung in den Kellerräumen unter der Synagoge, als die Harburger Nazis unter großer Anteilnahme der Bevölkerung begannen, die Harburger Synagoge zu verwüsten. In dem Urteil aus dem Prozess gegen die Synagogenschänder aus dem Jahre 1949 sind die Ereignisse minutiös beschrieben:

»Nachdem die Zerstörungen eine geraume Zeit angehalten hatten und der Lärm etwas nachließ, wagten sich die in der Kellerwohnung anwesende Frau Maidanek und eine zu Besuch bei ihr weilende Bekannte sowie der Zeuge Ko. hervor. Ko., ein Angestellter der von dem Anfang November 1938 in Schutzhaft genommenen Ehemann Maidanek betriebenen Schuhmacherei, hatte wie täglich nach Geschäftsschluss um 19 Uhr Frau Maidanek zum Kassenabschluss aufgesucht. Er war noch gerade vor Beginn des Sturmes in die Synagoge gelangt. Er führte die beiden Frauen hinauf, die ängstlich um ihr Leben zitterten, da man drohend in den Keller gerufen hatte: »Jude, komm’ heraus, gleich fliegt die Synagoge hoch!« Frau Maidanek wandte sich um Schutz an den Angeklagten [NSDAP-Kreisleiter] Drescher, der etwa zu dieser Zeit mit einem Stab von Mittätern an der Synagoge angelangt war und das Zerstörungswerk in Augenschein nahm. Der Zeuge Sp. will die Frau Maidanek eine kurze Strecke Wegs begleitet haben. Sie suchte in Begleitung ihrer Bekannten und beschützt durch den Zeugen Ko. die entfernt gelegene Wohnung eines Schwagers auf, die sie unbehelligt erreichte.

Bei ihrer Schwester Bertha, die mit dem erst aus Liebe zum Judentum übergetretenen Dachdecker Adolf Köster verheiratet war, fand sie in jener Nacht Zuflucht.

60 Jahre sind vergangen, seitdem Helene und Karl Maidanek und ihr Sohn Herbert am 25. Oktober 1941 aus Hamburg in das Getto Lodz deportiert wurden. Karl überlebte bis in den März 1942. In seiner »Abmeldekarte« hieß es, er »verließ am 16.3.« die Wohnung, in der gemeldet war. »Ursache: Tod« Genauer heißt es in der »Abmeldekarte« vom 24. August für den 22-jährigen Sohn Herbert, der die Wohnung am Vortage verlassen habe: »Ursache: Tod. Unterernährung«. Seine Mutter Helene blieb noch 19 Tage länger in Lodz, bis sie die Wohnung für immer verließ: »Ursache: ausgewiesen« - ein Tarnbegriff für die Deportation in ein Vernichtungslager, ins nahegelegene Chelmno, zum Beispiel.

Von den Maidaneks, die auch glückliche Zeiten in Harburg kannten, hat nur der jüngere Sohn John überlebt, den seine Eltern in jungen Jahren in die USA geschickt hatten – hoffend, ihm irgendwann folgen zu können. Herbert, Helene und Karl Maidanek - drei Namen, drei Geschichten. Ihre Namen finden Sie auf den Gedenktafeln.

Alfred Gordon war 1929 mit seiner Frau Jenny und seinem Sohn Carl Alexander nach Harburg gekommen. 1930 beschloss die Harburger jüdische Gemeinde seine lebenslange Anstellung als Kantor und Lehrer. Seinen Sohn gab er nicht an eine jüdische Schule in Hamburg, sondern an eine herkömmliche Harburger Schule, weil er auf ein gutnachbarschaftliches Miteinander zwischen Juden und Nichtjuden setzte. Bis Carl Alexander von Mitschülern unter antisemitischen Schmähungen an einem Baum gebunden wurde, »Kreuzigung« nannten sie das. Als ein Journalist, dem das später zu Ohren kam, darüber berichtete, wurden die Vorgänge untersucht, und die Schulleitung wiegelte ab, schmähte sogar neuerlich Vater und Sohn.

Alfred Gordon wird von Überlebenden, die bei ihm Religionsunterricht hatten, als wohltuend moderner Pädagoge geschildert. Sein Neffe Heinz erinnerte sich, dass er aus dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilnahm, kriegsverwundet und als Pazifist hervorgegangen sei. Ein mitfühlender Mensch, der, als ein Wilhelmsburger Pastor »von den Nazis aus politischen Gründen verhaftet worden« war, diesen in der Haft besuchte und ihn fragte, »was er für ihn tun könnte. Der Pfarrer bat ihn um eine Bibel. Mein Onkel brachte ihm eine Bibel (Altes und Neues Testament). Der Pfarrer dankte und sagte, dass er hoffe, dass mein Onkel nie in eine solch' bedrängte Lage kommen würde.«

Alfred Gordon war Humanist und Realist. Er, der in seiner Gemeinde als Gegner des Zionismus galt, begleitete 1936 eine Gruppe jüdischer Jugendlicher nach Palästina, kehrte aber selber nach Harburg zurück. Es gelang ihm auch, den Sohn nach Lateinamerika zu schicken. Auf sich selbst bezogen erklärte er seinem Neffen Heinz:

»Mein Platz ist bei meiner Gemeinde. Ich kann erst gehen, wenn das letzte Mitglied Deutschland verlassen hat« Er blieb. Bis zuletzt. Am 25. Oktober 1941 verließ er Hamburg das letzte Mal. Nach Lodz. Seine Frau war vorher in Altona verstorben. Einer, der mit ihm deportiert wurde, war Fritz Sarne, der zu den wenigen Überlebenden dieses Transportes gehörte. Er erinnerte sich »eines Morgens im Februar 1942, an dem ich an der Friedhofsmauer, die von Schutzpolizei gesichert wurde, arbeitete. Da sah ich einen Lastwagen, auf dem ich einige Harburger, darunter Prediger Gordon, erkannte - ich sehe ihn noch heute, mit seinem kleinen Spitzbart, mit seiner Brille, mit Gepäck (wir hatten ja nur 12 Kilo Gepäck), auf dem Lastauto an der Friedhofsmauer vorbeifahren. Und nach ungefähr zwei Stunden kehrten die Autos leer zurück. Später erfuhr ich, dass im in der Nähe gelegenen Chelmno eine Vergasungsanstalt bestand, in der unsere Leute umgebracht wurden.«

Auch Alfred Gordons Name findet sich auf der Gedenktafel. Ein Name. Ein Mensch. Eine Geschichte.

Der Terror gegen die Juden, gegen Roma und Sinti, gegen politische Opponenten der Nazis, gegen Behinderte, Angehörige anderer Minderheiten wie die Homosexuellen, hatte nicht einen, er hatte viele Anfänge.

Irgendwann Beginn der dreißiger Jahren gab ein Harburger namens Hastedt bei der Druckerei Kühne in der Knoopstraße 3 einen Flugzettel in Auftrag, auf dem es unter dem Hakenkreuz hieß: »Kauf deutsche Waren, aus deutscher Hand; Kaufst Du beim Juden, verrätst Du Dein Vaterland.« Was ging in Herrn Hastedt, was in Herrn Kühne, was in seinen Druckern vor, als sie diesen Anfang setzten? Ein Überlebender hat mir diesen Flugzettel gegeben. Ob andere Harburger ihn auch noch haben? Für den Überlebenden war dieses Dokument ein »Mittel gegen aufkeimendes Heimweh«, wie er gestand.

 

Der bereits erwähnte Fritz Sarne berichtete mir von einem anderen Anfang des Terrors – und des couragierten Widerstandes eines einzelnen dagegen. Als er am 1. April 1933 – wie gewohnt – das Central-Hotel am Sand zum Mittagstisch betreten wollte, sah er »vor den Geschäften jüdischer Inhaber die grölenden SA-Horden um Fritz Konerding, der ein Geschäft in der Wilstorfer Straße hatte und ein Obernazi war. Sie standen vor dem Kaufhaus Horwitz, vor Steins Bettenhaus, vor M. M. Friedmann, die alle von der SA belagert waren. Und als ich zum Sand kam, versuchte die SS, die SA, mich an dem Betreten des Central-Hotels zu hindern, an der Spitze ein Herr Wilhelm Koppe. Wilhelm Koppe war ein Kaffeegroßhändler, der auf der Westseite des Sandes sein Büro hatte und früher ein guter Kunde bei Bernhard Meier war. Ich habe ihm viele Maßanzüge verkauft, er trug nur englische Stoffe. Seine Eltern waren sehr gute Kunden. Er wollte mich verhaften, was von einem Schupohauptmann, den ich sehr gut kannte, verhindert wurde.« Jahre später kam es zu einer neuerlichen Begegnung. Fritz Sarne war aus Lodz – auf dem Weg nach Auschwitz – in das Reichsbahn-Arbeitslager Posen-Gutenbrunn deportiert worden. Eines Tages wurde »der Befehl ausgegeben, dass alle Insassen zum Appell anzutreten hätten, der durch Gauleiter Greiser und den Höheren SS-Polizeiführer Ost, SS-Obergruppenführer Wilhelm Koppe, abgenommen wurde.« Sarne erklärte mir: »Mein Gefühl, das ich damals hatte, kann ich kaum schildern, als ich den SS-Standartenführer der SS-Standarte 17, den Harburger Kaffeegroßhändler Wilhelm Koppe, in seiner prachtvollen SS-Uniform mit weißen Aufschlägen an mir vorbeimarschieren sah, um unseren Elendshaufen zu besichtigen. Das war ein Zeichen dafür, wozu es ein Nazi in der Nazi-Hierarchie bringen konnte. Später wurde er, wie ich hörte, angeklagt, für den Tod von über 300.000 jüdischen Verfolgten verantwortlich zu sein.«

 

Wilhelm Koppe hatte in seinen verschieden Funktionen innerhalb der SS im besetzten Polen Anteil an der Ermordung der dort lebenden Juden. Von 1939 an, nach dem Einmarsch in Polen, war er im sogenannten »Warthegau« (einem dem Deutschen Reich einverleibte Teil Polens) aktiv - dort wurde er noch 1939 zum SS-Gruppenführer, 1941 zum Generalleutnant und 1942 zum General der Polizei ernannt. Sein Dienstsitz war Posen, sein Dienstbereich erstreckte sich aber auch auf das Getto Lodz und das Vernichtungslager Chelmno, die in seinen »Aufgabenbereich« fielen. Er war als »Höherer Polizei- und SS-Führer« der höchste Verantwortliche der Polizei und SS im »Warthegau«. In einem Schreiben vom 12. November 1939 nannte er die Zahl von 100.000 aus seinem Dienstbereich zu deportierenden Juden. Koppe, der seine »SS-Karriere« in Harburg begonnen hatte, tauchte 1945 unter dem Geburtsnamen seiner Frau ab. Da er in Harburg bereits als Kaffee- und Schokoladengroßhändler Erfahrungen gesammelt hatte, knüpfte der neue Herr »Lohmann« beruflich daran an und wurde Geschäftsführer einer bedeutenden Schokoladenfabrik in Bonn. 1960 wurde er verhaftet, am 19. April 1962 jedoch wieder gegen Zahlung einer Kaution von DM 30.000 freigelassen. 1964 wurde gegen ihn in Bonn ein Verfahren eröffnet. Unter anderem war er wegen Beihilfe zum Mord an 145.000 Menschen angeklagt. Dank »guter« Ärzte wurde aus »gesundheitlichen Gründen« das Verfahren ausgesetzt. Im Jahre 1966 wurde schließlich die Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Landgericht Bonn wegen Krankheit abgelehnt. 1975 ist Wilhelm Koppe verstorben. Letztlich ging er straffrei aus.

Das Gedenken an die Opfer bedarf der Erinnerung auch an die Täter. Ohne diese Erinnerung erschiene das Morden – in den Worten der Historikerin Monika Richarz – wie eine »Tat ohne Täter«. Und waren das nicht auch ursprünglich »Menschen wie Du und ich«, also »ganz normale Menschen«? Liegt nicht das Wiederholungsrisiko auf Seiten der Täter und der Zuschauer, die sie gewähren ließen?

Erlauben Sie mir, abschließend drei Vorschläge zu machen, wie das Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus in Harburg eine neue, über den Tag hinausreichende Perspektive erhalten kann:

Die Erinnerung muss ja weitergehen. So viele Menschen starben als unschuldige Opfer schuldig gewordener Täter. Wir können ihnen ihr unvollendetes Leben nicht zurückgeben. Aber vielleicht Namen, Gesichter, Geschichten. Das zumindest sind wir ihnen schuldig.

Damit Gedenken nicht an die Stelle von historisch konkreter und notwendiger Erinnerung tritt, braucht es noch viel Arbeit. An die Harburger Schülerinnen und Schüler gerichtet gesagt: ohne Euer Engagement hört die Erinnerung irgendwann auf, und mit ihr verschwindet die letzte Hoffnung der Ermordeten auf ein kleines Stück Gerechtigkeit, das niemanden wieder lebendig macht: dass wir sie (und ihre Mörder) wenigstens nicht vergessen.