Alfred
Gordon war der letzte Lehrer und Vorbeter der jüdischen Gemeinde von
Harburg-Wilhelmsburg. Er wurde am 24. Mai 1886 in Augsburg geboren und studierte
an einem jüdischen Lehrerseminar. Er hatte eine Gesangsausbildung bei dem
Münchner Oberkantor Professor Emanuel Kirschner erhalten. Nach Abschluss seines
Studiums unterrichtete er eine zeitlang an einer Kölner Volksschule. Später
leitete er das Landheim Schwelm (Barmen-Elberfeld), eine Stiftung der Familie
Silberberg. In diesem Heim für jüdische geistig-behinderte Knaben lernte
Alfred Gordon seine spätere Frau Jenny (* 9.12.1886) kennen, die Tochter des
Stifters jenes Heimes. Bevor Gordon in der Harburger Gemeinde Anstellung fand,
amtierte er als Kantor bei der Gemeinde zu Halle/Saale. Im ersten Weltkrieg
diente er als Soldat an der Ostfront. Unter den Folgen einer dabei
davongetragenen Kriegsverletzung litt er bis zu seinem Tode. Am 15. Mai 1919
wurde Gordons Sohn Carl Alexander geboren.
1929 kam der als politisch liberal geltende Gordon nach Harburg. Am 12. November 1930 wurde von der jüdischen Gemeinde seine lebenslängliche Anstellung beschlossen.
Jenny,
Alfred und Carl Alexander Gordon vor dem Harburger Rathaus (undatiert;
Privatbesitz H. Gordon)
Gordon war überzeugter Humanist und Pazifist. Seinen Sohn hatte er aus der Überzeugung, dass Juden und Nichtjuden nachbarschaftlich miteinander leben können und sollen, auf eine allgemeine Schule in Harburg gegeben; durch die wachsende antisemitische Stimmung an der Schule, die auch den Magistrat der Stadt beschäftigte – sein Sohn war von Mitschülern unter dem Ruft »Kreuzigt ihn!« an einen Baum gebunden worden – sah sich Gordon später veranlasst, Carl Alexander an eine jüdische Schule in Hamburg zu geben.
Von seinen überlebenden Schülern, die bei ihm in Harburg den gemeindlichen Religionsunterricht erhielten, wird er übereinstimmend als ein äußerst gütiger und überlegter Mann beschrieben, bemüht, sein Reden und Tun in Einklang zu bringen.
Sein Neffe Heinz erinnert sich:
Der evangelische Pfarrer von Wilhelmsburg war von den Nazis aus politischen Gründen verhaftet worden. Mein Onkel besuchte ihn in der Haft und frug ihn, was er für ihn tun könnte. Der Pfarrer bat ihn um eine Bibel. Mein Onkel brachte ihm eine Bibel (Altes und Neues Testament). Der Pfarrer dankte und sagte, dass er hoffe, dass mein Onkel nie in eine solch' bedrängte Lage kommen würde.
Alfred
Gordon in seinem Kantoren-Ornat mit Gebetsschal (undatiert, Privatbesitz H.
Gordon)
Gordon war ein sehr aufmerksamer Analytiker des aufkommenden und an Bedeutung gewinnenden Antisemitismus, der bereits um 1931 vor antisemitischen Strömungen, vor allem auch unter Jugendlichen, warnte.
Am 10. April 1933 wandte Gordon sich mit einem Brief zum Pessachfest an seine Gemeinde. Hier deutet Prediger Gordon das beginnende Verfolgungsgeschehen als eine Probe für das Judentum, die es zu bestehen gelte, und - hier ist Gordon ganz Seelsorger seiner Gemeinde - die zu bestehen sei. In seinem Schreiben heißt es:
Ich habe das Bedürfnis, mich in diesen Pessachtagen an all diejenigen meines Seelsorgebezirks zu wenden, die nicht Gelegenheit haben, einem Gottesdienst beizuwohnen. Sowohl an Euch, liebe Freunde aus meiner Harburger Gemeinde, die Ihr aus irgendwelchen Gründen heute dem Gotteshause fernbleibt, als auch an Euch, liebe Freunde, in den kleinen Bezirksgemeinden richtet sich mein Wort in dieser so ernsten Zeit. Noch nie in meiner Amtszeit hatte ich so stark das Gefühl wie gerade jetzt, dass doch in weiten Kreisen die Erkenntnis sich durchsetzt, dass unsere heilige Religion, die heute ja unser Schicksal ist, auch unser Trost und Halt zu sein vermag. In diesen herben Notzeiten, da wird vielleicht manchem von Euch - bewusst oder unbewusst - das Wort des Psalmendichters auf den Lippen gelegen haben: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen, bleibst fern meiner Hilfe, meines Schreiens Wort; mein Gott, des Tages rufe ich, aber Antwort wird mir nicht, des Nachts schreie ich, aber ich finde keine Beschwichtigung.' [ð Psalm 22,2-3] Es ist eine große Angst in uns eingezogen; die materielle Basis unseres Lebens scheint uns bedroht, die seelische Not ist fast noch größer; von dieser seelischen Not zu sprechen, ist nicht nötig, das hat der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in wahrlich erschütternder Weise in seinem Aufruf getan.
Gordon ordnete das Geschehen ein in die Geschichte des Judentums, die eine Geschichte unmittelbar zu Gott sei, denn schließlich solle
aus allen Erschütterungen des historischen Geschehens […] der Finger Gottes sichtbar werden.
Alfred Gordon verwies darauf, dass jeder seine
eiserne Pflicht [habe], in dieser Notzeit vor allem sich zu fragen, ob er stets und ständig, dem Gebot unserer Torah treu, in höchster Redlichkeit und unter Einsatz jedes Opfers der Gemeinschaft gedient hat; denn darauf kommt es wesentlich an, dass wir unter Zurückdrängung allen Egoismus, der engeren und weiteren Gemeinschaft dienen. Nicht, dass es jedem Einzelnen von uns gut ergehe, sondern dass die Gesamtheit - sei es die Gemeinde, sei es das Gesamtjudentum und sei es der Staat, in dem wir leben - sich wohl befinde, ist die Forderung des Judentums.
Um zu erklären, wie es zu dem Antisemitismus komme, warum ausgerechnet die Juden Opfer eines solchen Schicksals würden, verwies der Prediger auf ein Bibelwort, das die Antisemiten den Juden immer wieder als hochmütigen Auserwählungsanspruch vorwarfen, um es jedoch gleich in seiner Bedeutung zu erklären:
An den Füßen des Sinai wurde uns zugerufen: »Wihejisem Li Segulo Micol Hoamim«. »Ihr seid auserwählt von allen Völkern«. Wenn jemand glaubt, dass er damit Vorrechte beanspruchen kann, so irrt er sich. Wenn jemand glaubt, dass diese Wort den Keim für unbegründeten Hochmut enthalte, so täuscht er sich. Es ist eine ewige Aufgabe, die uns zuerteilt ist, eine Aufgabe, die unsagbar schwer ist. Wir wissen es aus den Ereignissen unserer Geschichte, dass die Augen der Welt auf jeden einzelnen Juden gerichtet sind, und dass jeder einzelne haftbar gemacht wird für das Tun der Anderen und alle haftbar werden für das Tun des Einzelnen. Darin sind wir ausgewählt vor allen Völkern, das ist das große Erziehungsproblem, das uns auferlegt ist, unter dessen Joch wir deutschen Juden heute fast zusammenzubrechen drohen.
Gordon sah die Verfolgung als Aufforderung an die Juden zur Umkehr -
Diese Stunden der Not müssen uns zur Besinnung veranlassen und unsere Aufgabe als jüdische Menschen uns noch viel klarer als bisher vor Augen stellen. Unsere Aufgabe als jüdische Menschen ist keine andere, als die, das Gute zu tun und ehrlich und redlich in jeder Regung unseres Lebens zu wandeln. Alles Andere, die ganze Torah, ist nichts anderes, als der Wegweiser zu diesem Ziel.
In seinen Äußerungen beschrieb Alfred Gordon den Antisemitismus als eine Krisenerscheinung und Ausdruck der Irrationalität, die zu der seiner Ansicht nach stattgefundenen Revolution gegen die absolute Herrschaft der Vernunft und des Egoismus gehöre; schließlich seien Religion und Glaube quasi die legitimen Geschwister der Irrationalität:
Seid Euch bewusst. liebe Freunde, dass das Erleben unserer Tage nicht ein Ende bedeutet. Eine Revolution in ungeheurem Ausmaß ist über uns dahingegangen. Jede Revolution ist stark von Gefühlsmäßigem getragen. Diese Revolution musste es besonders sein, denn die Ratio, der Verstand in seiner ganzen Einseitigkeit ist Schuld daran, dass das Wirtschaftsleben aus seinen Angeln gehoben war, dass der krasse Egoismus Maschinen da hinstellte, wo Menschen mit ihren Lebensnotwendigkeiten stehen sollten. Dass sich die menschliche Natur dagegen aufbäumt, ist allzu verständlich. Dass heute an Stelle der einseitigen Herrschaft des Verstandes, das Irrationale, das rein Gefühlsmäßige getreten ist, das fühlten wir seit Jahren. Vielleicht haben auch wir Juden es nicht verstanden, in unserem Leben in den vergangenen Jahrzehnten diese Kräfte, die nicht errechnet und gemessen werden können, ohne die wir aber weder glücklich noch zufrieden sein können, zu hegen und zu pflegen. Und zu diesen Kräften gehören vor allem die Religion und der Glaube.
Das Verfolgungsgeschehen, das im April 1933 noch ganz am Anfang stand, ordnete Gordon ein in die Reihe der Bedrohungen, denen das Judentum immer wieder ausgesetzt war. Als Reaktion auf die Bedrängnis empfahl er den ertragenden Heldenmut:
Unsere Väter haben im Laufe unserer Geschichte Situationen erlebt, die unserer durchaus vergleichbar sind. Sie haben alles ertragen mit jenem Heldenmut, den viele leider nicht mehr verstehen. Sie konnten es ertragen, weil sie als wahrhafte Juden für ein Ideal ihr Leben hinzugeben bereit waren. Wahrhafte Juden aber waren sie, weil in ihnen nicht nur die Kräfte des rechnenden und messenden Verstandes, sondern auch die geheimnisvollen Quellen des Gemüts, des Glaubens, des Hoffens wirksam waren.
Gordon selbst fiel es, wie Mose, nicht leicht, tröstende Worte zu finden, er schrieb:
Wir stehen in den Pessachtagen. Israel war aus Not und Sklaverei herausgezogen. Schlagt einmal auf, liebe Freunde, das uralte Buch unserer Bibel. Es war gewiss nichts Leichtes, diesen Menschen in Ägypten zu predigen, dass der Gott ihrer Väter noch lebe, dass er sehen würde ihr Elend und ihre Not. Wie ein Wurm windet sich Moses, der Führer, ja, er sucht sich dieser furchtbaren Aufgabe zu entziehen! Doch eine Stunde gibt es, in welcher dieser Heros der Geschichte am Ziele seiner Wünsche steht. Nicht, dass er schließlich an der Spitze seines bedrängten Volkes die Grenzen Ägyptens überschritt, ist das große Erlebnis, sondern dass er vor sich die Fluten des Meeres, hinter sich die nachjagenden Ägypter, zu der Erkenntnis kam: »Wajaaminu Baadauneu Uwe-Mausche Awdau« [2. Mose 14,31]. Sie hatten Emuno - Vertrauen, - »Treue zu Gott und zu Mose seinem Knecht« Vertrauen auf Gott zu haben, nicht zusammenzubrechen in der Not unserer Zeit, zu den Führern und Lehrern unserer Gemeinschaft zu stehen, wissend, dass sie nur im Dienste des Göttlichen sich fühlen - das wird die Fluten des Hasses teilen und nach harten Wanderungen durch eine Wüste von Vorurteilen uns bringen in das gelobte Land einer anderen und besseren Zeit.
Der Platz des Juden in dem neuen Deutschland wird nicht derselbe sein, wie der der vergangenen Jahrzehnte. Aber auch der Platz des Deutschen im kommenden Vaterland wird sich verändern. Es wird wieder die Zeit kommen, in welcher man unserer Mitarbeit nicht verschmähen wird, in der man unsere Ehre und unseren guten Willen anerkennen wird! Dann werden wir zurückblicken auf diese Tage furchtbarer seelischer Not. Sie werden uns verklärt erscheinen und wir werden wissen, dass diese Tage uns besser gemacht haben, dass es Tage der Besinnung und Einkehr waren.
Was meint Alfred Gordon mit dem »gelobte[n] Land einer anderen und besseren Zeit«? Worauf bezieht sich diese Redewendung?
Ein »Haus der Zukunft« sah Gordon entstehen, und der Weg dorthin war für ihn - in bester jüdischer Tradition - die religiöse Umkehr.
Wir werden wieder zu würdigen wissen die Feier des Freitagsabend und der Sedernächte [abendliche Feiern zum Pessachfest]. Und vielleicht - und das hoffe ich - wird es uns nicht so schwer fallen, an den hohen Feiertagen unsere Geschäfte zu schließen und Opfer zu bringen für unsere heiligste Überzeugung! Helfe einer dem anderen, stütze einer den anderen in Wort und Tat und nehmen wir die Lehren und Erfahrungen dieser Zeit in eine bessere Zukunft mit hinüber, damit die Besinnung auf unser Judentum, auf unsere Religion, auf Bewusstsein der Verantwortung der Umwelt gegenüber, die tragenden Säulen werden, auf denen wir das Haus unserer Zukunft errichten.
Wie stellte sich für Gordon die Situation im April 1933, unmittelbar zu Beginn der Verfolgung, dar? Welche Gründe nennt er für den Erfolg des Nationalsozialismus in der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung? Welche Absicht verfolgt er mit seinem Schreiben? Wie sollten die Juden seiner Auffassung nach reagieren? Überprüft, ob der darstellende Text zur Quelle dem Originaldokument gerecht wird.
Gordons Hoffnungen für die Zukunft jedenfalls trogen. Gleichgültig, wie sich die Juden verhielten, der Hass der Nazis war ihnen sicher. Sein Neffe Heinz erinnert sich
Im Jahre 1936 kam er durch München und besuchte uns natürlich. Er brachte einen Transport von Kindern nach Palästina. Trotzdem er sah, was sich entwickeln würde, kam er zurück und opferte sich auf.
Auf Ihre Frage, was für ein Mensch mein Onkel war, kann ich mit gutem Gewissen sagen: er war ein Idealist, der seine Mitmenschen liebte und bereit war, sich für sie zu opfern.
Bevor Heinz Gordon 1937 in die USA floh, verbrachte er »die letzten beiden Tage auf deutschem Boden in Harburg-Wilhelmsburg« bei Alfred und Jenny Gordon.
Er hatte es schon ermöglicht, seinen Sohn Carl Alexander auf eine Landwirtschaftsschule in Holland zu bringen. So war nur mein Onkel und seine Frau Jenny zurückgeblieben. Ich sagte zu meinem Onkel, dass ich versuchen werde, ihn und Tante Jenny sobald als möglich nach Amerika zu bringen, worauf er mir mit herzlichsten Worten dankte und mich ermahnte, dafür zu sorgen, dass ich alles tun soll um meine junge Frau und meine Eltern so rasch als möglich mir nachfolgen lassen zu können. Ich werde nie seine Worte vergessen, als er auf sich beziehend sagte: »Mein Platz ist bei meiner Gemeinde. Ich kann erst gehen, wenn das letzte Mitglied Deutschland verlassen hat«.
Alfred Gordon wollte seine Gemeinde nicht im Stich lassen.
Nachdem auch die Harburger jüdische Gemeinde nach der Eingemeindung der ursprünglich selbständigen preußischen Stadt Harburg-Wilhelmsburg ihre Eigenständigkeit verlor, zog Alfred Gordon nach Altona um und blieb in Diensten der Hamburger Gemeinde, wo er eng mit dem Oberrabbiner Dr. Joseph Carlebach zusammenarbeitete. Dort starb auch seine Frau Jenny am 18. August 1941 im Alter von 54 Jahren.
Am 25. Oktober 1941 verließ Alfred Gordon Hamburg zum letzten Mal. Er wurde nach dem Getto Lodz deportiert. Einer, der mit ihm auf diese Reise ging, im Gegensatz zu Gordon jedoch zurückkehrte, ist Fritz Sarne.
Quellen:
Brief des Neffen Harry Heinz Gordon an Matthias Heyl vom 12. März, 11. April und 10. Mai 1988
Auszüge aus dem Schreiben Alfred Gordons an seine Gemeinde vom 10. April 1933
Tonband von Fritz Sarne vom 8. Januar 1990