Zum weiteren Schicksal der nach Zbaszyn Deportierten

Tatsächlich kehrten Erna Wellner und ihre jüngere Schwester Peppi noch einmal im Jahre 1939 kurz nach Hamburg zurück. Es gelang ihnen noch kurz vor Kriegsbeginn, ein sicheres Exil zu finden, das sie vor dem späteren Zugriff der Nazis und ihrer Vernichtungsmaschinerie schützte. Die Umstände ihrer Auswanderung im buchstäblich letzten Moment beschreibt Erna Wellner:

»Meine Schwester und ich versuchten, als Haushaltshilfen nach England zu kommen, und erhielten von dort keine Antwort. [Ein Bekannter nutzte einen England-Aufenthalt; …], um nach Bloomesburry House zu fahren, um dort unsere Akte zu suchen, und er schrieb, dass er mit Tränen in den Augen für uns vorsprach, und es waren so viele andere dort, Hunderte, Tausende, die versuchten, ihre Verwandten und Freunde rauszuholen, er war nicht der einzige, doch hatten die anderen mehr Zeit. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, er schrieb: ‚Mit Tränen in meinen Augen bat ich, Eure Papiere herauszusuchen, noch bevor ich England verlassen musste. Er war nicht religiös, doch schrieb er, dass sich die Papiere mit Gottes Hilfe anfanden.‘ Sie waren verlegt in die Sparte Ehepaare, sie dachten, dass meine Schwester Peppi ein Mann sei, und hielten mich für ihre Frau - deshalb hatten wir nie Antwort erhalten. Wenn er nicht dorthin gegangen wäre, sie beschworen hätte, gebeten und gebettelt - vielleicht hat er sie auch bestochen - ich glaube nicht, dass wir es geschafft hätten. Der Beamte versprach […], dass wir rauskommen würden, als Mädchen, nicht als Ehepaar, denn Paare nahmen sie nicht. Sie suchten Mädchen. Kurze Zeit später erhielten wir Antwort, dass wir nach Bornmouth vermittelt würden. Wir fuhren nach Deutschland. Meine Eltern und Brüder brachten Peppi und mich zum Zug, in Zbaszyn, und wir fuhren über Deutschland, weil wir hofften, noch Sachen aus Hamburg holen zu können. Mein Bruder hatte eine Freundin. Sie oder ihre Mutter öffnete die Tür unserer Wohnung, ich weiß nicht, was wir rausholten. Viele Dinge fehlten, aber ich weiß nicht, ob diese Leute sie genommen hatten, oder die Nazis, denn die hatten den Schlüssel auch. Wir blieben dort vielleicht zwei Tage. Wir hatten unserer Mutter versprochen, dass wir nicht länger bleiben würden, als unbedingt notwendig. Das Schiff fuhr an einem bestimmten Tag - wir fuhren mit dem Schiff vom Hamburger Hafen aus.«

 

Auch Reta und Henny Goldberg konnten noch kurz vor Kriegsbeginn nach England entkommen. Reta Goldberg schreibt:

»Der frühere Chef meiner älteren Schwester war nach England ausgewandert. Er schickte Geld für meine Eltern und bot uns an, als Hausmädchen nach England zu kommen. Durch die Quäker bekam ich mein Visum im Mai 1939 und fuhr nach England. Meine jüngere Schwester Henny erhielt ihr Visum einige Wochen später. Meine ältere Schwester bekam ihres am Tag, als der Krieg ausbrach. Für sie war es zu spät.«

Ein Ziel der britischen Politik war es, den Zuzug von arbeitsfähigen Erwachsenen zu begrenzen, wohl aber eine überschaubare Zahl von Kindern und jungen Frauen, die in Haushalten untergebracht werden konnten und den Arbeitsmarkt nicht belasteten, aufzunehmen.

Die Entkommenen dachten schweren Herzens an die Zurückgebliebenen. Die Schwestern Henny und Reta Goldberg versuchten, ihren Eltern aus der englischen Zuflucht noch zu helfen, so, wie auch Erna und Peppi Wellner das ihre versuchten.

Erna Wellners Bericht sei hier stellvertretend herausgegriffen:

»Ende Juni 1939 kamen wir an. Im August erhielten wir unser ersten Lohn, wir schickten das Geld nach Zbaszyn, und im September brach der Krieg aus. Wir schickten das Geld nach Zbaszyn, und aus Spaß schickten wir es an meine Mutter. Sie hatte nie über Geld verfügt. Mein Vater und meine Brüder verdienten das Geld. Es waren fünf Pfund, unser erstes in England verdientes Geld. Wir erhielten einen Brief, den wahrscheinlich mein Vater geschrieben hatte, in dem stand, dass sie das Geld erhalten hatten. Später konnten wir nichts mehr schicken, weil der Krieg ausgebrochen war. Ich weiß nicht einmal, wann sie von Zbaszyn weggingen, wann sie die Erlaubnis erhielten. Ich wollte es nicht herausfinden, oder ich hatte die Kraft nicht. Vielleicht dachte ich nicht daran. Das war die letzte Nachricht. Dass sie das Geld erhalten hatten, und dass sie froh waren, dass meine Schwester und ich zusammenbleiben konnten. Das war das wichtigere: ‚Passt auf Euch auf! Passt auf Euch auf!‘ - denn ich bin sechs Jahre älter als Peppi.«

Für die meisten war es mit dem Einmarsch der deutschen Truppen wirklich zu spät, noch ein rettendes Asyl zu finden. Einer derer, die auch nach der Besetzung Polens Schutz fanden, ist Jakob Findling, dem noch am 7. November 1939 die Flucht aus dem von den Deutschen in den von den Sowjets besetzten Teil Polens gelang. So entkam er der nationalsozialistischen Judenverfolgung, musste jedoch in der UdSSR Zwangsarbeit leisten und Inhaftierung erdulden. 

Wohl die Mehrzahl der am 28. Oktober 1938 nach Polen Ausgewiesenen, die die Deutschen bei ihrem Einmarsch noch in Polen antrafen, gelangte später in die Gettos und KZs der deutschen Besatzungsmacht.

Zu den Ereignissen des 9. und 10. November 1938