Die Lebensbedingungen in Zbaszyn

Die Ausgewiesenen wurden außerhalb der Stadt Zbaszyn notdürftig in Baracken und Ställen untergebracht, bevor sie später in Zbaszyn aufgenommen wurden, und allmählich vollzog sich der Wechsel vom Provisorium zur - weiterhin eigentlich unhaltbaren - Dauerlösung. Mit Hilfe polnischer jüdischer Gemeinden, des »Magen David Adom« (das jüdische Pendant zum Roten Kreuz) und anderer jüdischer Organisationen wurden die Lebensverhältnisse jedoch gelinde verbessert. Reta Goldberg schreibt zu den anfänglichen Lebensumständen in Zbaszyn und zur Unterbringung:

»Unsere Pässe waren mit einem Abschiebungsvermerk gestempelt. Am folgenden Tag bestimmten die Polen, dass jeder Pass wiederum gestempelt werden müsse. So stellte sich mein Vater für uns in die Reihe, denn er konnte als einziger von uns Polnisch sprechen. Da waren wir in einem fremden Land - eine Familie unter Tausenden, die über Nacht nach Polen abgeschoben worden waren. Wir hätten ins Landesinnere, nach Tarnow, weiterfahren können, doch reichten die fünfundsechzig Mark nicht für uns fünf. Wir wollten unsere Eltern nicht alleine lassen, und sie wollten ohne uns nicht gehen. Für ein paar Nächte, vielleicht für eine Woche, lebten wir in den Baracken. Auf Stroh schliefen wir, wir hatten außer den Kleidern, die wir am Leibe trugen, nichts gegen die Kälte. Das jüdische Rote Kreuz brachte uns Tee und Brot. In jener Woche hatten wir nichts anderes zu essen. Wir durften schließlich in die Fünftausend-Einwohner-Stadt Zbaszyn hinein, die Ställe und Baracken wurden geschlossen. Viele Leute, die über genügend Geld verfügten, mieteten für einen Zloty pro Kopf und Nacht Betten in den Wohnungen der Polen. Wir hatten ein Schlafzimmer für unsere Eltern gefunden, das sie mit einem anderen Paar und einem Bekannten teilten. Wir drei Schwestern hatten ein Zimmer außerhalb der Stadt gefunden, das wir mit drei Bekannten teilten. Wir wurden jedoch ängstlich, da wir jede Nacht von Soldaten angehalten wurden, weshalb wir in die Stadt zurückzogen. Meine ältere Schwester lebte dann mit vielen anderen in einer dreistöckigen Mühle, während meine jüngere Schwester in der geräumten Schule wohnten. Andere lebten in einer anderen leeren Schule, in einem großen, leeren Privathaus und in dem Haus des Sportvereins. Jede Person wurde registriert. Diese Aufgabe erhielten wir jüngeren Leute zugeteilt. Jeder bekam eine Karte für Lebensmittel, Bekleidung und Haushaltswaren. Leere Läden wurden zu Ausgabestellen, Küchen wurden eingerichtet, ein Postamt eröffnet. Alle jungen Leute halfen mit, denn das Leben war langweilig und öde. Es gab absolut nichts anderes zu tun. Mein Vater half vielen mit der polnischen Sprache. Es wurde sehr, sehr kalt. Vom Roten Kreuz erhielten wir warme Kleidung und Wolldecken zum Schlafen. Unsere Betten waren Strohsäcke auf dem Flur, und wir schliefen alle dicht beieinander, wie die Sardinen in der Dose, um warm zu bleiben.«

Die Unterbringung in Massenunterkünften (meist der jungen Menschen) oder die primitive Einmietung zu mehreren bei polnischen Bewohnern des Städtchens Zbaszyn (oft für die Eltern von den Kindern aufgebracht) gehörten von da ab zum Alltag der aus ihrer Umwelt gerissenen Abgeschobenen. Die Unterbringung war vielfach Ergebnis der Eigeninitiative der jüdischen Leute selbst.

Auch andere Bereiche gingen zusehends in die Eigenverantwortlichkeit der Deportierten über: Essensvergabe, Verteilung von Kleidungsstücken aus den Beständen der jüdischen Wohlfahrtsorganisationen und andere Aufgaben wurden von den jüdischen "Neueinwohnern" Zbaszyns in Selbsthilfe organisiert.

Erna Wellner berichtet, dass die Deportierten auch ihre medizinische Versorgung selber organisieren mußten. Erna Wellner erkrankte und musste ins Krankenhaus:

»Sie wandelten ein Bauernhaus ins ‚Krankenhaus’ um. Es gab keine Schwestern, keine Ärzte, und dort traf ich die Schwester von dem, der den deutschen Botschafter - die Schwester von Herschel Grynszpan. Sie war dort, weshalb, weiß ich nicht. Ich erinnere, sie war in meinem Alter. Später änderte sie ihren Namen, aus Angst, dass jemand sie umbringen wolle, dass die Nazis sie umbringen würden. Das Rote Kreuz war dort. Ich erinnere mich nicht an Medizin, an Tabletten, doch, an Schröpfköpfe erinnere ich mich, aber nicht an Ärzte, obwohl dort welche gewesen sein müssen.«

Durch die zufällige Begegnung Erna Wellners mit der Schwester von Herschel Grynszpan ist bereits eine Verbindungslinie zwischen

»Die Schwester Grynszpans war dort, sie war ein sehr nettes Mädchen, ich weiß aber nicht, was sie hatte, nicht einmal, woher sie kam. Sie holten die Leute nicht nur aus Hamburg, von überall her. Ich erinnere, es war ein sehr bedeutender Tag, als wir herausfanden, dass sie die Schwester Grynszpans war, erzählte sie mir - fragte ich sie nach ihren Eltern.«

Das Miteinander zwischen den originären polnischen Bewohnern Zbaszyn und den jüdischen Deportierten, den

Erna Wellner äußert sich zu den Bedingungen zu jener Zeit:

»Mein Bruder Jupp arbeitete in der Post in Zbaszyn. Das Rote Kreuz öffnete eine Küche, dort gab es Essen, und sogar Kleidung. Wir bekamen sogar Butter, keine Margarine, Butter! Die haben wir uns in Hamburg nicht leisten können. Nach und nach freundeten wir uns mit den nichtjüdischen Leuten in Zbaszyn an, mit den Polen. Wir saßen an ihren Öfen, wärmten uns, kochten bei ihnen. Ich weiß nicht, ob sie uns dennoch hassten. Ja, die jüdische Gemeinde zahlte wohl für uns.«

Noch in Zbaszyn und nach den Ausschreitungen des 9. November noch, hofften einige der nach Polen Ausgelieferten auf eine Rückkehr nach Deutschland, wie Erna Wellner erinnert:

»Wir dachten, wir hofften, dass wir nach Deutschland zurückgehen könnten, selbst nach dem Pogrom, selbst nach dem 9. November. Da hatten sie deutsche Juden in die KZs gebracht, aber wir dachten, das habe mit uns polnischen Juden nichts zu tun, wir würden zurückgehen. Wir gingen nicht zurück.«

Was wurde aus den Deportierten?