1. April 1933 - der Boykott gegen Geschäfte jüdischer Eigentümer

Vorgeschichte

Am 1. April 1933 fand auf den Straßen des Deutschen Reichs der sogenannte »Abwehrboykott« statt  ein von den Nazis geplanter und durchgeführter Boykott gegen Geschäfte jüdischer Eigentümer, Rechtsanwalts und Arztpraxen usw. Auch in Hamburg und im damals selbständigen Harburg-Wilhelmsburg.

Für die jüdischen Mitglieder politischer Organisationen und Verbände, die unter den Nazis verboten wurden, veränderte sich die Situation besonders schnell und drastisch, wie Heinz Schleich, der der SPD und dem Reichsbanner angehörte, gleich 1933 erfahren musste, als er von der SS nachts aus der elterlichen Wohnung geholt wurde. Er beschreibt, wie die SS ihn

»gewaltsam entführte und mich, umringt von SS-Leuten, in einem offenen Wagen vor das Denkmal des in Harburg von der Einwohnerwehr nach dem ersten Weltkrieg getöteten Freikorpsführers, Hauptmann Berthold, brachte [der den Kapp-Putsch in Harburg anführte], das die Nazis vor der Heimfelder Mittelschule errichtet hatten. Ich war damals Mitglied der Schutzformation des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und daher den Nazis sehr gut bekannt. Angeblich sollte dieses ‚Denkmal‘ in Abwesenheit der Harburger SS […] beschmiert worden sein, womit ich allerdings absolut nichts zu tun hatte! Vor der genannten Schule waren bereits einige Dutzend Sozialdemokraten, Reichsbannerkameraden und Kommunisten in ähnlicher Weise wie ich zusammengetrieben worden. Die zahlreichen anwesenden SS-Leute ließen uns hier unter ständigen Fußtritten und Faustschlägen im Dreck robben, viele von uns wurden schwer misshandelt.«

Heinz Schleich zog es vor, Harburg nach diesem Erlebnis zu verlassen.

Johanna Meier, seit 1889 in Harburg ansässig, erinnerte sich:

»Das Leid und Unglück der Juden begann langsam, aber systematisch, mit Hitlers Machterhebung. Man sang: ‚Schlagt ihn tot, den Juden, Stellt den Juden an die Wand. Wenn's Judenblut vom Messer spritzt, dann geht es noch mal so gut.‘ etc., das waren die Marschlieder […]. Jordanplantscher, asiatische Horden, Köterrasse war unsere Bezeichnung. […] Jüdische Schaufenster wurden am Morgen mit roter Farbe beschmiert: Jude! Und als Kaufmann Markus mal einen Zettel gleichen Inhalts entfernte, wurde er verhaftet, und man sagte ihm, er habe dazu kein Recht. Das Verbrennen jüdischer Bücher wird noch in aller Erinnerung sein. Wir saßen in unserem kleinen Schrebergarten, als Lastwagen die Stadt durchfuhren, ‚geziert‘ mit Inschriften und Fratzen, besetzt mit Männern, die im Chor brüllten: ‚Deutschland erwache! Juda verrecke!‘ […] Das allererste, was mich bei Beginn dieser Hetze am meisten und nachhaltigsten erschütterte, war wohl, dass unser altehrwürdiger, langjähriger Vorsteher [der jüdischen Gemeinde], Herr Daltrop, der jeden Morgen früh den Friedhof inspizierte, den Sarg der kurz vorher verstorbenen alten Frau Bartfeld ausgegraben und aufgestellt vorfand.«

 

Antisemitismus

Ein Flugblatt aus Harburg. Unter dem Hakenkreuz heißt es: »Kauf deutsche Waren, aus deutscher Hand; Kaufst Du beim Juden, verrätst Du Dein Vaterland.« »Verantwortlich für den Inhalt« zeichnete R. Hastedt aus Harburg, gedruckt wurde der Zettel bei Kühne, Knoopstraße 3. Das Flugblatt ist undatiert und war von einem aus Harburg geflohenen Juden aufbewahrt worden  als »Mittel gegen Heimweh«, wie er später bekannte. [Originaldokument]

 

 

Situation

Im Bewusstsein vieler Harburgerinnen und Harburger, die sich an die Verhältnisse in Harburg vor 1933 erinnern können, ist das Bild der jüdischen Gemeinschaft und ihrer Erwerbstätigkeit durch große Namen wie M. M. Friedmann, Max Stein und Iwan Hahn geprägt, die größere Geschäfte in der Lüneburger Straße betrieben.

Tatsächlich zählte die jüdische Gemeinde etliche Selbständige zu ihren Mitgliedern. Selbständig war aber auch beispielsweise Rebekka Rotter, die Waren in Kommission im Hausierhandel vertrieb.

Viele der Zuwanderer aus Osteuropa, die etwa die Hälfte der Gemeindemitglieder ausmachten und seit Ende des 19. Jahrhunderts in Harburg heimisch geworden waren, verdienten ihren Unterhalt als Kleinsthändler oder Handwerker. Sie verfügten bei ihrer Ankunft in Harburg nur über geringstes Vermögen und geringe berufliche Qualifikationen. Diese Zuwanderer blieben meist arm, auch wenn sie ihre Situation häufig durch Strebsamkeit und Fleiß deutlich verbessern konnten. Ihre Kinder nahmen oft nur die Mindestschulzeit bis zum 14. Lebensjahr wahr, um dann meist in kaufmännische Lehrberufe zu wechseln. Einen längeren Schulbesuch der Kinder konnten die Zuwandererfamilien sich nicht leisten, mussten schließlich die Kinder ihren Teil zum Unterhalt beitragen. Den Kindern gelang dann oft der berufliche Aufstieg, der ihren Eltern verwehrt geblieben war.

Die wirtschaftliche Lage der jüdischen Gemeinde (als Spiegel der ökonomischen Situation ihrer Mitglieder) in Harburg war um 1933 äußerst schlecht, sie schrieb ein nicht unbeträchtliches Defizit. 

Die beginnende Verfolgung, der Boykott der Firmen jüdischer Eigentümer und die Abwanderung der ersten Mitglieder und der daraus resultierende Verlust ihrer Steuerbeiträge waren sicherlich ein Grund der angespannten Situation. 

Ein anderer Grund lag in der durch die Weltwirtschaftskrise beeinträchtigten Situation einzelner Geschäfte. In der Industriestadt Harburg waren die Kaufleute, deren Kundschaft vornehmlich aus Industriearbeitern bestand, von der Krise in besonderem Maße betroffen. Die Verfolgungsmaßnahmen brachten den jüdischen Unternehmern noch weitere Umsatz und Gewinneinbußen. 

Nichtjüdische Konkurrenten mögen sich angesichts der von den Nazis begonnenen Boykottaktionen die Hände gerieben haben, da sich nach Wegfall der jüdischen Konkurrenten deren Branchenanteil bequem umverteilen ließ, um so die eigene durch die Wirtschaftskrise erschwerte Situation zu verbessern.

Die angespannte wirtschaftliche Situation hatte für die Juden wie für die Nichtjuden vor 1933 begonnen, und durch die antijüdischen Maßnahmen der neuen Nazi-Regierung wurde diese Tendenz für die Juden noch verstärkt, erhielt eine andere Wendung und eigene Dynamik unter dem Vorzeichen der gewollten, staatlich gelenkten Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben im Deutschen Reich.

 

Verdrängung

Am 30. März 1933, zwei Tage vor dem sogenannten »Abwehr-Boykott« des 1. April 1933, beschloss der Magistrat der Stadt Harburg-Wilhelmsburg:

»Jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Einheitspreisgeschäfte und Konsumvereine, sowie auch jüdische Rechtsanwälte und Ärzte sind künftighin von städtischen Lieferungen auszuschließen. Ausnahmen bedürfen besonderer Genehmigung des Magistrats.«

Am 31. März desselben Jahres gab Bürgermeister Dyes den Auftrag an das städtische Hauptamt, die anderen Büros der Stadtverwaltung, die mit der Vergabe von Aufträgen befasst waren, von diesem Magistratsbeschluss in Kenntnis zu setzen. Dem Schreiben lag ein Verzeichnis der als »jüdische Unternehmen« zu boykottierenden Unternehmen bei.

Wie die Liste zustande gekommen war, wer sie erstellt hatte, und nach welchem Kriterien schließlich Unternehmen als jüdisch qualifiziert wurden, bleibt aus den Akten unersichtlich.

Immerhin nannte sie in einer ersten Ausführung die Namen von 54 Firmen, davon allein neun in der Lüneburger Straße und 17 in der Wilstorfer Straße. Diese Zusammenfassung mag den Harburger Nazis als Adressenverzeichnis für den  sogenannten »Abwehrboykott« des 1.April 1933 gedient haben.

Wie »erfolgreich« die Nazis mit ihrem Boykott waren, lässt sich kaum sagen. Er mag zur allgemeinen Einschüchterung beigetragen, die Juden deutlich stigmatisiert und der Mobilisierung der eigenen Anhänger (etwa unter den Konkurrenten der jüdischen Geschäftsleute, Anwälte und Ärzte) gedient haben. Für die Verdrängung der Juden aus dem Geschäftsleben brauchte es einen längeren Atem.

Am 6. April 1933 wurde ein neues Verzeichnis der »jüdischen Unternehmen« vorgestellt, zu dem der Magistrat feststellte, dass

»die in dem […] Verzeichnis aufgeführten jüdischen Unternehmen in Gemäßheit des Magistratsbeschlusses vom 30. März 1933  Nr. 14  von Lieferungen und Leistungen für die Stadtverwaltung auszuschließen sind. Diese Maßnahme gilt auch für Konsumvereine.«

Die neue Zusammenstellung nannte für den Stadtteil Harburg 53 Unternehmen (drei davon wurden später handschriftlich gestrichen, eines handschriftlich hinzugefügt), für den Stadtteil Wilhelmsburg sieben. In der Folgezeit entstanden weitere, undatierte Verzeichnisse, in denen gelegentlich neue Namen auftauchten und alte verschwanden. Wenn wir auch nicht erfahren, wer die Liste nach welchen Kriterien zusammenstellte, wird doch aus den gelegentlichen Streichungen und Hinzufügungen deutlich, dass die Nazis selber über nur wenig zuverlässige Kategorien für die Festlegung, wer als Jude zu gelten habe, verfügten. Gelegentlich versuchten auf der Liste Genannte, den Boykott ihrer Geschäfte abzuwenden.

Der Arzt Dr. med. Bartsch, ein Nichtjude, der mit einer Jüdin verheiratet war, wurde am 11. April 1933 aus dem Verzeichnis gestrichen, da der Magistrat feststellte,

»dass der Arzt Dr. med. Bartsch […] nicht jüdischer Rasse ist«.

(Wenig später wählte Dr. Bartsch unter dem Druck der dennoch fortwährenden Verfolgung den Freitod.)

Der vom Magistrat verordnete Boykott richtete sich auch gegen Geschäftsinhaber, die zwar jüdischer Herkunft waren, sich selber jedoch längst nicht mehr als Juden verstanden. 

Einer dieser Fälle ist recht gut dokumentiert, da der betroffene Wilhelmsburger Kaufmann Paul M. versuchte, seine Streichung von der Liste »jüdischer Unternehmen« zu erwirken. Sein erstes Schreiben an den Magistrat datiert auf den 10. April 1933. 

M. hoffte, dass sein christliches Bekenntnis ihn vor der Verfolgung als Jude schützen könnte. Dass die von den Nazis zugrundegelegte Definition des Juden tatsächlich auf rassistischen Zuordnungen basierte, nach dem religiösen Bekenntnis oder Selbstverständnis der Betreffenden nicht fragte, nahm M. vorerst nicht wahr. Er war schließlich ein national eingestellter Deutscher, wie er betonte. Er hatte sich während des Ersten Weltkriegs  wie unzählige deutsche Juden  als loyaler deutscher Bürger und Patriot erwiesen, und er hatte dafür sogar, wie er berichtete, erhebliche geschäftliche Verluste hinnehmen müssen. M. führte sein vaterländisches Engagement in der Hoffnung an, dass dieses zur Unterstreichung seiner Loyalität dienen könnte, auf die die Nazis jedoch keinerlei Wert legten. Um der Tragik der Situation der Harburger jüdischer Herkunft, die die Assimilation an die christliche Umwelt bis hin zum Übertritt zum Christentum vollzogen hatten, Ausdruck zu verleihen, sei M.s weitere Schilderung hier wiedergegeben:

»Ich gehöre auch heute noch dem Gesangsverein des Roten Kreuzes als Schriftführer und erhielt für meine Tätigkeit bei der Flüchtlingsfürsorge durch die vereinigten Verbände Heimatbund Oberschlesier, Landesgruppe Hamburg, Ortsgruppe Wilhelmsburg, eine Erinnerungsmedaille. Seit zwanzig Jahren bin ich Mitglied der Landeskammer und habe in jeder Beziehung den Interessen des Kleinhandels wahrgenommen. Meine beiden Söhne sind seit Kriegsende Mitglieder der Kriegskameradschaft Reiherstieg, mein Sohn Günther ist Gruppenführer bei der freiwilligen Sanitäterkolonne vom Roten Kreuz, war 20 Jahre Mitglied beim D.H.V. (Handlungsgehilfenverband). Aus dem Schreiben des Herrn Pastor Reinhardt werden Sie ersehen, dass ich meine Verpflichtungen der evangel. luth. Kirche in jeder Beziehung nachgekommen bin, Sie dürfen fest überzeugt sein, dass ich stets nur als Christ gefühlt und gehandelt und gelebt habe, ich bin wirklich nie Jude gewesen. Wie mir allseitig bestätigt wurde, haben die hiesigen Einwohner, die Mitglieder der N.S.D.A.P., sowie meine Kollegen, nicht erwartet, dass auch gegen mich der Boykott angewandt würde, am 31. März wurde mir auf Anfrage bestätigt, ich komme nicht in Frage, da ich kein Jude bin, sondern bin so sehr Christ, wie es nur ein Mensch sein kann. […] Ich bitte dringend und höflichst, lassen Sie mich, bezugnehmend auf vorstehende Gründe, wieder als Lieferant für das Wohlfahrtsamt zu, ich kann keine Einnahmen mehr entbehren, ich hoffe Sie werden meine Bitte erfüllen und mich nicht auf gleiche Stufe mit den jüdischen Geschäften stellen, meine Angehörigen werden es mit mir, Ihnen ewig danken. Sollten Sie für mein Gesuch nicht eintreten können, bitte höflichst an zuständige Stelle weiterzuleiten.«

Die Verwaltung war sich jedoch selbst noch nicht sicher, wie sie in einem solchen Falle zu verfahren hätte. Unter 2. schrieb der Beamte:

»Zur nächsten Magistratssitzung mit folg. Beschlussentwurf: Der Magistrat beschließt, den Antrag des Kaufmanns P.M. auf Streichung in dem Verzeichnis der jüdischen Unternehmen zu genehmigen / abzulehnen. D.Mag.«

Die Worte »zu genehmigen« waren handschriftlich durchgestrichen, der Vermerk von Bürgermeister Dyes abgezeichnet.

Mit Schreiben vom 13. April 1933 erhielt M. den abschlägigen Bescheid:

»In der heutigen Magistratssitzung ist beschlossen worden, Ihren Antrag auf Streichung in dem Verzeichnis der jüdischen Unternehmen abzulehnen. Wir sind daher zu unserem Bedauern nicht in der Lage, in dieser Angelegenheit etwas für Sie zu tun.

M. ließ sich jedoch davon nicht völlig entmutigen. Am 30. Mai 1933 richtete er laut Aktenvermerk der Harburger Verwaltung in eine erneute Eingabe an den Regierungspräsidenten in Lüneburg. Diesmal lautete schon der Beschlussentwurf eindeutig. Am 8. Juni 1933 fällte der Harburger Magistrat den gleichlautenden Beschluss. Der Harburger Magistrat reichte den Antrag mit dem entsprechenden Hinweis an den Regierungspräsidenten zurück. Folgerichtig bat der Magistrat den Regierungspräsidenten, den Antrag M.s abzulehnen. Mit Schreiben vom 3. Juli 1933 teilte der Regierungspräsident dem Kaufmann M. mit:

»Auf Ihren Antrag vom 30. Mai auf Streichung in dem Verzeichnis der jüdischen Geschäfte bedaure ich, nichts veranlassen zu können, da mir eine Einwirkung auf den dortigen Magistrat in dem von Ihnen gewünschten Sinne nicht möglich ist.

Der Kaufmann Paul M. wiederholte seine Bitte um Streichung seines Geschäftes aus der als jüdische Geschäfte zu boykottierenden Unternehmen in einem weiteren Antrag an den Magistrat der Stadt Harburg Wilhelmsburg vom 16. Juli 1933. M.s letztes in den Akten erhaltenes Schreiben datiert auf den 28. August 1933. Darin bat er um die Rücksendung der seinem Gesuch vom 17. Juli 1933 beigefügten Anlagen. Ob er sich andernorts weiter um die Streichung von der Liste »jüdischer Unternehmen« bemühte, ließ sich bislang nicht feststellen.

Der Schuhmacher Karl Maidanek wandte sich ebenfalls an den Magistrat der Stadt Harburg-Wilhelmsburg, um den städtischen Boykott abzuwenden. Am 18. Mai 1933 wurde das Gesuch vom Magistrat abgelehnt.

 

»Arisierungen«

Einige der jüdischen Geschäftseigentümer sahen sich bereits zu Beginn der Verfolgung dem zunehmenden Druck nicht mehr gewachsen. Sie verkauften ihre Geschäfte noch zu relativ hohen Preisen (verglichen mit den Summen, die die jüdischen Eigentümer im Zwangsverkaufs und sogenannten »Arisierungsverfahren« erhielten) und verließen vielfach das Land.

Bereits vor dem Erlass der Nürnberger Gesetze im Jahre 1935, die ja erst die Grundlage des »Rassenschande«-Vorwurfs bildeten, versuchten die Nazis, der in Harburg weithin bekannten Firma M. M. Friedmann habhaft zu werden, indem sie eine Angestellte unter Drohungen dazu zu bringen versuchten, zu erklären, dass der Juniorchef, mit dem sie liiert war, sie zu dieser Liaison gezwungen habe. Die Angestellte wurde immer wieder in das Büro der NSDAP gerufen, wo ausgerechnet zwei ehemalige Sozialdemokraten, die zu den Nazis übergewechselt waren, ihr heftig zusetzten, sie solle doch endlich im Sinne der Nazis aussagen. Sie blieb jedoch standhaft.

 

Im Reich

Die reichsweite gesetzliche Regelung der Geschäftsbeziehungen zwischen öffentlicher Hand und jüdischen Gewerbetreibenden wurde erst im März 1938 getroffen, nachdem sich die interministerielle Schacht-Konferenz vom 20. August 1935 bereits darauf geeinigt hatte, dass an sogenannte jüdische Firmen keine öffentlichen Aufträge mehr zu vergeben seien.

Der Reichs und preußische Wirtschaftsminister ließ im März 1938 dem Deutschen Gemeindetag einen mit dem Vermerk »Geheim!« versehenen Beschluss der Reichsregierung »mit dem Ersuchen, die Gemeinden in geeigneter Form zu unterrichten«, zukommen. Dieser Beschluss fand als Abschrift seinen Weg in die Harburger Akten. In dem Papier heißt es:

»Betr.: Ausschluss von Juden von der Vergebung öffentlicher Aufträge 

Das Reichskabinett hat auf meinen Antrag beschlossen, Ziffer III der Richtlinien des Reichskabinetts über die Vergebung öffentlicher Aufträge vom 14. Juli 1933 wie folgt neu zu fassen:

‚Bei der Vergebung öffentlicher Aufträge ist nach dem Grundsatz zu verfahren, dass jüdische Firmen nicht zu beteiligen sind, es sei denn, dass im Ausnahmefalle zwingende Gründe des Allgemeininteresses eine solche Vergebung erforderlich machen.‘

Ziffer III der Richtlinien des Reichskabinetts vom 14. Juli 1933 sah in der bisherigen Fassung  unbeschadet des Grundsatzes der Bevorzugung ‚arischer‘   Bewerber  noch die Möglichkeit vor, jüdische Firmen dann an öffentlichen Aufträgen zu beteiligen, wenn ihre Angebote günstiger waren.

Es war also hinsichtlich der Beteiligung oder Nichtbeteiligung jüdischer Firmen an öffentlichen Aufträgen auf rein wirtschaftliche Gründe abgestellt worden, wobei der damals im Vordergrund stehende Gesichtspunkt der Arbeitsbeschaffung ausschlaggebend war.

Dieser Gesichtspunkt hat im Laufe der letzten Jahre in dem Maße an Bedeutung verloren, in dem das Problem der Beseitigung der Arbeitslosigkeit seiner Lösung entgegenging.

Wenn zum Zeitpunkt des Erlasses der Kabinettsrichtlinien vom 14. Juli 1933 der Gedanke maßgebend war, dass die gesamte Wirtschaftspolitik auf die Beseitigung der Arbeitslosigkeit auszurichten sei, so sind derartige Erwägungen bei dem heutigen Stande der Dinge nicht mehr entscheidend. Nachdem unerwünschte Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt in irgendwie wesentlichem Ausmaße nicht mehr zu erwarten sind, ist es geboten, den Grundsätzen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik durch eine weitere Zurückdrängung des jüdischen Einflusses auch auf dem Gebiete des öffentlichen Auftragswesens Rechnung zu tragen. Es muss daher künftig davon ausgegangen werden, dass im Grundsatz die Beteiligung einer jüdischen Firma an Aufträgen der öffentlichen Hand überhaupt als unstatthaft anzusehen ist.«

Damit hatte Göring zugleich

Am 4. Januar 1938 teilte Göring der Arbeitsgemeinschaft der Industrie und Handelskammern in der Reichswirtschaftskammer vorläufige Grundsätze für die Frage mit, ob eine Firma als jüdisch zu betrachten sei, da die Industrie und Handelskammern gegenüber den öffentlichen Stellen für diese Beurteilung zuständig waren. Die Grundsätze lauteten unter anderem:

»1.Der Gewerbebetrieb einer Einzelfirma gilt als jüdisch, wenn der Inhaber Jude ist.

2. Der Gewerbebetrieb einer offenen Handelsgesellschaft oder einer Kommanditgesellschaft gilt als jüdisch, wenn ein persönlich haftender Gesellschafter Jude ist.«

Die Entscheidung, ob ein Geschäftsinhaber oder Gesellschafter als Jude zu gelten hatte, wurde gemäß den Nürnberger Gesetzen getroffen.

Am 14. Juni 1938 wurde die Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz erlassen, die den Begriff der »jüdischen Gewerbebetriebe« schuf.

In der gleichen Verordnung wurden die Registrierung der »jüdischen Gewerbebetriebe angeordnet und der Reichswirtschaftsminister ermächtigt, ihre besondere Kennzeichnung gemeinsam mit dem Reichsinnenminister und dem »Stellvertreter des Führers« einzuführen.

Damit war reichsweit  also auch in Harburg  die gesetzliche Handhabe zur genauen Erfassung der Betriebe als jüdisch erachteter Eigentümer durchzuführen.

Die weiteren gesetzgeberischen Schritte allein des Jahres 1938, hin bis zur »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben«, erlassen drei Tage nach der Pogromnacht des 9. November 1938 und die dazugehörige Durchführungsverordnung vom 23. November 1938. Jedenfalls war 1938 in jeder Hinsicht das Ende der »Illusion der Schonzeit« (Barkai): sämtliche von den Nazis als jüdisch bezeichneten Einzelhandelsgeschäfte z.B. sollten bis zum 31. Dezember 1938 ihren Betrieb einstellen. Die letzten Enteignungen wurden vorbereitet und eingeleitet.

Im Jahre 1938, dem Jahr der nahezu vollendeten Verdrängung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben, besaßen nur noch wenige der von den Nazis als Juden betrachteten Harburger eigene Läden. Es endete so manche jüdische Existenz in Harburg, die doch vordem Jahrzehnte dort überdauert haben konnte. Die Fensterläden blieben oft nur kurz geschlossen, bis die »Arisierungsgewinnler« sie wieder öffneten. Harburgs Geschäftsleben blieb ohne die jüdischen Geschäftsleute nicht stehen. Das Geschäft ging weiter, und Geschäft blieb Geschäft.

 

Boykott 

Das erste aufsehenerregende Ereignis, das sich gezielt gegen die Juden richtete, war der reichsweite Boykott von Geschäften, Unternehmen, Rechtsanwalts und Arztpraxen jüdischer Eigentümer am 1.April 1933. Die »Harburger Anzeigen und Nachrichten« berichteten am selben Tag von dem Boykottverlauf. In dem mit dem Titel »Großer Menschenzustrom in den Hauptverkehrsstraßen« heißt es:

»In den Hauptstraßen von Harburg sah man heute Vormittag überall große Menschenmengen. Die Maßnahmen der Nationalsozialisten begannen mit dem Glockenschlag 10 Uhr. Eine Fahrkolonne mit Schildern, die auf den Boykott hinwiesen, durchfuhren mit den Hakenkreuzfahnen die Straßen der Stadt. Gleichzeitig setzten sich von der Bergstraße große Abteilungen SS und SA in Bewegung. Bald standen vor allen Geschäften die Posten, die darauf aufmerksam machten, dass der Inhaber des Geschäftes Jude sei. Mehrere jüdische Geschäfte hatten überhaupt geschlossen. Bald nach 10 Uhr wurde der Andrang beispielsweise in der Lüneburgerstraße derart, dass Autos, Fuhrwerke und Straßenbahnen nur langsam vorwärtskommen konnten. Die ungeheuren Ansammlungen erforderten polizeiliche Maßnahmen. Das herbeigerufene Überfallkommando griff zunächst in der Lüneburger und Wilstorfer Straße ein und brachte die Mengen auseinander. Dann wurden einige Zeit die Zugangsstraßen nach der Lüneburger und Wilstorfer Straße abgeriegelt. Einige halbwüchsige Burschen, die auffällig wurden, brachte die Polizei zur Wache.«

In der gleichen Ausgabe berichteten die Harburger Anzeigen über eine am 30. März 1933 im Lokal Gambrinus, Buxtehuder Straße, abgehaltene NSDAP-Versammlung, in der veranschaulicht wurde,

»warum der Boykott gegen jüdische Geschäfte erfolge. Friseurmeister Heisig, Harburg, streifte bei Erörterung der Dinge auch die Harburger Verhältnisse, wie sie seit den Novembertagen 1918 sich entwickelt haben, wobei insbesondere der Mittelstand arg geschädigt worden sei. Der Kaufmann Lölsack, Harburg, gab ein umfassendes Bild der vom Ausland durch Juden verbreiteten Greuelmärchen; er betonte, die Juden seien Deutschlands Unglück, weil sie international gebunden seien. Die Ostjuden müssten wieder dahin geleitet werden, woher sie gekommen sind. […] Auch in Harburg werde am Sonnabend der Boykott in diszipliniertester Weise als Abwehrmaßnahme gegen die Greuelhetze im Ausland durchgeführt werden.« [Originaldokument]

Hier verbanden sich verschiedene antisemitische Argumente  die Behauptung, die Juden seien die Urheber der Wirtschaftskrise, Profiteure der Weimarer Republik, schließlich heimatlose Gesellen und das Unglück der Deutschen.

Der Boykott war seitens der Stadt Harburg-Wilhelmsburg bereits am 30. März zur Strategie erklärt worden, die sich nicht in einer einmaligen Aktion erschöpfen sollte; an jenem Tag hatte der Harburger Magistrat beschlossen:

»Jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Einheitspreisgeschäfte und Konsumvereine, sowie auch jüdische Ärzte und Rechtsanwälte sind künftig von städtischen Lieferungen und Aufträgen auszuschließen.«

Dies war der administrative Anfang einer staatlich legitimierten und vom Harburger Magistrat selbst betriebenen ökonomischen Ausgrenzung der Harburger Juden und der Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage.

Immerhin wurden anfänglich 64 Geschäfte jüdischer Eigentümer in Harburg und Wilhelmsburg boykottiert. Es bestand jedoch eine gewisse Unsicherheit in der Frage, welche Geschäfte als »jüdisch« zu gelten habe.

Im Fall des mit einer Jüdin verheirateten Arztes Dr. med. Bartsch, der dadurch als Nichtjude auf die Boykottliste gelangt war, musste der Harburger Magistrat am 11. April 1933 eingestehen, dass er »nicht jüdischer Rasse ist und beschließt deshalb, ihn von der jüdischen Liste zu streichen.« Der Mehrzahl der Antragsteller, die sich bemühten, auf der Boykottliste gestrichen zu werden, war, wie ihm, weniger Glück beschieden;  die Streichung des Kaufmanns Paul M. wurde abgelehnt. Der Antrag von Dr. Bacher auf Zulassung zu Arbeiten für das städtische Wohlfahrtsamt wurde ebenfalls abschlägig beschieden. Am 11. Mai 1933 verwehrte der Magistrat dem Dr. med. Levy, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, die Zulassung zur Versorgung Hilfsbedürftiger für das Wohlfahrtsamt.

Der Mehrzahl der Antragsteller, die sich bemühten, auf der Boykottliste gestrichen zu werden, war, wie ihm, weniger Glück beschieden;  die Streichung des Kaufmanns Paul M. wurde abgelehnt. Der Antrag von Dr. Bacher auf Zulassung zu Arbeiten für das städtische Wohlfahrtsamt wurde ebenfalls abschlägig beschieden. Am 11. Mai 1933 verwehrte der Magistrat dem Dr. med. Levy, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, die Zulassung zur Versorgung Hilfsbedürftiger für das Wohlfahrtsamt.

Auf der Liste der zu boykottierenden Geschäfte finden sich jedenfalls einige Streichungen, weshalb sich mehrere Listen in den Akten finden.

Wiederholte und im Ausnahmefall erfolgreiche Anträge von Kaufleuten und Ärzten, die auf die Liste der "jüdischen Geschäfte" gesetzt worden waren, sie dort wieder zu streichen, deuten auf eine gewisse Definitions- und Rechtsunsicherheit hin, da noch ungenügend festgelegt war, wer als Jude gelten sollte.

 

Widerstand

Der Inhaber der Firma J. Daltrop Buchdruckerei und Kontorbedarf, Ignatz Reis, protestierte gegen den Boykott seines Geschäftes mit einem Flugblatt, das hier um seiner Einzigartigkeit willen vollständig dokumentiert sei:

»In der Kundgebung des Herrn Reichskanzlers vom 12.3. heißt es u.a.: Als Euer Führer und im Namen der Regierung der nationalen Revolution fordere ich Euch daher auf, die Ehre und damit aber auch die Würde des neuen Regiments so zu vertreten, dass es vor der deutschen Geschichte dereinst auch in Ehren und Würden zu bestehen vermag.‘ ‚Ich befehle Euch daher von jetzt an strengste und blindeste Disziplin‘. ‚Im übrigen ist es nun aber unsere Aufgabe, dem ganzen deutschen Volke und vor allem auch unserer Wirtschaft das Gefühl der unbedingten Sicherheit zu geben. Wer es von jetzt ab versucht, durch Einzelaktionen Störungen unseres Verwaltungs- oder des geschäftlichen Lebens herbeizuführen, handelt bewusst gegen die nationale Regierung.‘ Trotzdem ist zur Zeit eine Bewegung im Gange, die darauf abzielt, Geschäfte zu boykottieren, nur weil deren Inhaber Juden sind. In der Kundgebung des Herrn Reichspräsidenten vom 21. März heißt es u.a.: ‚In steter Treue grüße ich die Hinterbliebenen unserer teuren Toten und in herzlicher Kameradschaft alle meine Kameraden aus dem großen Kriege‘. Zu den ‚Hinterbliebenen‘ gehört meine Frau, deren Bruder gefallen ist. Zu den ‚Kameraden‘ gehöre ich selbst, der ich von Anfang an im Feld gestanden, vor dem Feind zum Offizier befördert, zum Kompanie-Führer ernannt, mehrmals verwundet, mit dem Eisernen Kreuz II.Kl., dem Meininger Offizierskreuz und dem Eisernen Kreuz I.Kl. ausgezeichnet worden bin. Ich überlasse es Ihrer Beurteilung, ob es angebracht oder gerecht ist, mein Geschäft zu boykottieren, nur deshalb, weil ich Jude bin. Die mit der Boykottierung verbundene wirtschaftliche Schädigung würde natürlich auch mein Personal treffen, von dem mehrere ebenfalls mit Kriegsauszeichnungen heimgekehrte Frontsoldaten sind, also auch ‚Kameraden aus dem großen Kriege‘.« 

Auch der Rückgriff auf Hitler nützte Reis nichts, doch hatte er sich immerhin dem Boykott entgegengestellt. Ob das Flugblatt im Gegenteil negative Konsequenzen für ihn hatte, ist nicht bekannt geworden.

Misshandlungen, Verhaftungen, Bücherverbrennungen, Gräberschändungen, die Furcht vor alledem  das gehörte fortan als fester Bestandteil zum Leben der Harburger Juden.

 

Karstadt  jüdisch?

Eine weitere Firma, die sich um ihre Streichung von der Harburger Liste bemühte, war die Rudolph Karstadt A.G. Sie hatte jedoch  anders als die Harburger Juden  gewichtigere Fürsprecher für ihr Anliegen gefunden.

Der Reichsverband der Mittel und Großbetriebe des Deutschen Einzelhandelverbandes e.V. mit Sitz in Berlin wandte sich mit Schreiben vom 11. Juli 1933 an das Reichswirtschaftsministerium, um darauf zu drängen, dass die Boykottmaßnahmen der Stadt Harburg gegen die Firma Rudolph Karstadt AG, die sich auf die Vergabe städtischer Aufträge bezogen, rückgängig gemacht würden.

Das Reichswirtschaftsministerium gab den Vorgang an den Preußischen Minister für Wirtschaft und Arbeit weiter.

Am 22. August 1933 meldete der Magistrat der Stadt Harburg-Wilhelmsburg dem Regierungspräsidenten, dass er  am 30. März beschlossen habe, jüdische Gewerbetreibende und ihr Unternehmen von städtischen Lieferungen und Aufträgen auszuschließen, an eine Abänderung des Beschlusses denke man nicht.

Offenbar war der Vorgang vom preußischen Wirtschaftsministerium an den Regierungspräsidenten zur weiteren Veranlassung gegeben worden. Der gab sich mit der Auskunft des Magistrats nicht zufrieden und ersuchte ihn ultimativ, binnen fünf Tagen den Magistratsbeschluss auf der Grundlage der Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge vom 24.Juli 1933 zu überprüfen, ihn zurückzunehmen oder die Hinderungsgründe zu benennen.

Der Magistrat antwortete, dass der Beschluss insofern modifiziert worden sei, dass nicht alle Warenhäuser, sondern ausschließlich sogenannte »jüdische Warenhäuser« von Aufträgen ausgeschlossen würden. 

Der Regierungspräsident wollte nun wissen, ob die Firma Karstadt A.G. wieder zur Vergabe öffentlicher Aufträge zugelassen worden sei, worauf der Harburger Magistrat erklärte, dass die Firma Rudolph Karstadt A.G. als ein »deutschstämmigen Firmen« bei gleichwertigen Angeboten der Vorzug zu gewähren sei.

Noch hatte der Harburger Magistrat keinen Nachweis der Behauptung geliefert, dass die Karstadt A.G. als »jüdisches Unternehmen« zu betrachten sei.

Weder dem Oberpräsidenten in Hannover, noch dem Regierungspräsidenten in Lüneburg war offenbar wohl bei dem Gedanken, sich ohne ausreichende Rückendeckung mit einer so bedeutenden Firma anzulegen, weshalb offenbar der Regierungspräsident den Magistrat auf Anordnung des Oberpräsidenten ersuchte, mit der Hilfe der Industrie und Handelskammer der Stadt Harburg-Wilhelmsburg festzustellen, ob die Firma Karstadt A.G. als jüdisch angesehen werden könne.

Da die von der Industrie und Handelskammer erbetene Auskunft nicht fristgerecht an den Regierungspräsidenten erfolgen konnte, begründete der Magistrat seine Stellungnahme dahingehend,

»dass unbestrittenermaßen Vorstand und Aufsichtsrat der Karstadt A.G. bis zur formellen ‚Gleichschaltung‘ der Firma überwiegend oder völlig aus Juden bestanden. Da die Vertreter des Aufsichtsrats und des Vorstandes als Vertreter rassegleicher Kapitalsinhaber anzusehen waren, war also fraglos das Unternehmen bis zur formellen Gleichschaltung jüdisch. Es ist uns bekannt, dass im Wege der ‚Gleichschaltung‘ daraufhin zwar Vorstand und Aufsichtsrat von Juden gereinigt wurden. Da aber nicht bekannt geworden ist, dass das Aktienkapital im Zusammenhang mit dieser Umbesetzung der Geschäftsführung und des Aufsichtsrates den Besitzer gewechselt hat, müssen wir den Standpunkt vertreten, dass sich das Karstadt’sche Aktienkapital nach wie vor in jüdischen Händen befindet, die Firma sonach heute noch jüdisch ist.«

Am Tag dieser vorläufigen Stellungnahme, dem 17. Oktober 1933, teilte das Wohlfahrtsamt der Firma Rudolph Karstadt A.G. mit, dass man dort weiterhin davon ausgehe, dass es sich bei dem Unternehmen um ein Warenhaus handele. Der Antrag auf Wiederzulassung zu städtischen Aufträgen wurde mit gleichem Schreiben abgelehnt. 

Am 19.Oktober 1933 antwortete die Industrie und Handelskammer dem Magistrat auf seine Bitte um Hilfe bei der Klärung, ob die Firma Karstadt A.G. als »jüdisch« zu betrachten sei. 

Die Antwort fiel anders aus, als vermutlich vom Magistrat erwünscht und erwartet. Die Karstadt A.G. teilte in einer diesem Schreiben beigefügten Erklärung mit, dass sie anstrebe, zu mehr als 50% in Besitz deutscher Großbanken (genannt wurden ausdrücklich Dresdner Bank und die Commerz und PrivatBank A.G.) zu gelangen.

Außerdem wurde fast beiläufig erwähnt, dass die Firma auf ihren Antrag hin von der »Selbsthilfe Arbeitsgemeinschaft der SA« und dem »Nationalsozialistischen Wirtschaftsbund« das Schild »Deutsches Geschäft« erhalten haben, nachdem die Verhältnisse genauestens geprüft worden waren.

Am 7. November 1933 bat der Magistrat den Regierungspräsidenten um Aufklärung, ob das Unternehmen nach dortigen Erkenntnissen als "jüdisch" anzusprechen sei, da man in Harburg eine endgültige Einschätzung des Unternehmenscharakters nicht treffen könne.

Am selben Tag gab der Lüneburger Regierungspräsident den Landräten und Magistraten seines Regierungsbezirkes den Wortlaut eines Schreibens des Reichswirtschaftsministeriums vom 8. September 1933 mit der Bitte um Beachtung zur Kenntnis. Darin äußerte sich das Ministerium gegenüber dem Industrie und Handelstag zu Boykottaktionen sehr zurückhaltend.

Etwa zeitgleich mit der Auseinandersetzung um den Ausschluss der Firma Karstadt A.G. von städtischen Aufträgen hatte sich ein zweiter Konflikt zwischen dem Harburger Magistrat und Karstadt entwickelt.

 Auf der Sitzung des Bürgervorsteher-Kollegiums der Stadt Harburg-Wilhelmsburg vom 30. Juni 1933 folgte das Gremium einstimmig dem Antrag der NSDAP-Fraktion, den Magistrat zu ersuchen, jene Zeitungen, die Anzeigen jüdischer Warenhäuser annehmen, nicht zur Veröffentlichung städtischer Bekanntmachungen zu nutzen.

Damit sollte der Politik des »kalten Boykotts« gefolgt, sollten die Verleger unter Druck gesetzt werden, keine Anzeigen sogenannter »jüdischer Warenhäuser mehr anzunehmen.«

Dass sich diese Maßnahme nur auf Anzeigen von Warenhäuser beschränkte, nicht aber auch für die anderen Geschäfte jüdischer Eigentümer galt, mag ein Kompromiss zwischen verschiedenen ideologischen Forderungen (Boykott »jüdischer Unternehmen«, Stärkung des Mittelstandes, keine Unterstützung der Warenhäuser zuungunsten des Mittelstandes) und politischem Pragmatismus.

Mit Schreiben vom 29. August 1933 fragte der Magistrat bei den »Harburger Anzeigen und Nachrichten« an, ob sie Anzeigen »jüdischer Warenhäuser« annehme.

Auf den 29. September 1933 datiert ein Schreiben des Gauwirtschaftsberaters bei der NSDAP-Gauleitung Ost-Hannover, der sich zu einer eigenen, eindeutigen Stellungnahme nicht entschließen konnte.

Zwei Herzen schlugen offenbar in der Brust der Nazis:

Die Firma Karstadt hatte bereits durch eine Anfrage der »Harburger Anzeigen und Nachrichten« Kenntnis von den Maßnahmen des Harburger Magistrats erhalten. Auf den 19. September 1933 datiert ein Schreiben, mit dem die Firma vom Verlag der »Harburger Anzeigen und Nachrichten« gebeten wurde, so schnell wie möglich eine Bestätigung zur Verfügung zu stellen, dass die Firma Rudolph Karstadt A.G. ein

»rein christliches Unternehmen ist, da vom Magistrat der Stadt Harburg-Wilhelmsburg beabsichtigt ist, nichtchristlichen Warenhäusern die Insertion in unserer Zeitung zu sperren.«

Damit war die Absicht des Magistrats erkannt, den als »jüdischen Warenhäusern« betrachteten Unternehmen den Weg des Inserierens zu versperren, doch enthielt sich der Magistrat ja der direkten, das Inserieren verbietendenden Intervention.

Er verließ sich auf die Wirkung der Drohung, den »Harburger Anzeigen und Nachrichten« die öffentlichen Mitteilungen zu entziehen, falls die Zeitung weiterhin Inserate der beanstandeten Firmen veröffentlichen wollte. Die Geschäftsleitung der »Harburger Anzeigen und Nachrichten« zögerte, ihrerseits die Geschäftsbeziehung zur Firma Karstadt abzubrechen und zeigte ein beachtliches Beharrungsvermögen, während sich andere Blätter bereits freiwillig das Geschäft mit den sogenannten »jüdischen Firmen« in einem Akt der Selbstgleichschaltung versagten.

Die Karstadt A.G. wandte sich, von dem Schreiben des Verlages der »Harburger Anzeigen und Nachrichten« alarmiert, wiederum unverzüglich an den Reichsverband der Mittel und Großbetriebe des Deutschen Einzelhandels e.V., der den Preußischen Wirtschafts- und Arbeitsminister von dem Harburger Vorhaben informierte.

In dem Schreiben des Verbandes vom 25. September 1933 wird insbesondere darauf abgehoben, dass durch die Inseratsperre Arbeitsplätze gefährdet werden  ein immer wieder bestechendes Argument.

Einer Gesprächsnotiz vom 23. September lässt sich entnehmen, dass am 19. September 1933 ein Gespräch mit dem Verleger der »Harburger Anzeigen und Nachrichten«, Schröter, stattfand.

In dem Gespräch erklärte dieser, dass weder die Firma Karstadt, noch das Unternehmen Tietz nach Bestimmungen des Zeitungsverlegervereins der »NS-Einheits-Organisation der Zeitungsunternehmungen« als »jüdische Warenhäuser« anzusehen seien  auch dies eine unerfreuliche Mitteilung für die Harburger Nazis.

Das preußische Wirtschafts- und Arbeitsministerium forderte mit Schreiben vom 3. November 1933 den Regierungspräsidenten in Lüneburg auf, die Dinge weiter zu verfolgen, und der Regierungspräsident ersuchte den Harburger Magistrat am 13. November 1933, ihm umgehend zu berichten, dass in Harburg kein Verbot für die Aufnahme »jüdischer Geschäftsannoncen« erlassen werden würde. 

Der Harburger Magistrat zeigte in der Auseinandersetzung mit der und um die Karstadt A.G. eine  in gewisser Weise geradezu beeindruckende - Eigeninitiative und ein großes Beharrungsvermögen.

Die Geschäftigkeit, mit der das preußische Wirtschaftsministerium, der Oberpräsident in Hannover und der Regierungspräsident in Lüneburg reagierten, zeugt von einer gewissen Aufgeregtheit um die Vorgänge. Der Magistrat verfolgte eine strengere Orientierung in Hinblick auf den ideologisch begründeten Weg des Boykotts und der Verdrängung der Unternehmen jüdischer Eigentümer, während die übergeordneten Instanzen eher auch die ökonomischen Gefahren eines solchen Vorgehens, zumindest zu jenem Zeitpunkt, sahen.

Hier haben die Harburger Nazis und die ihnen unterstellte Bürokratie ihren Handlungsspielraum genutzt, indem sie ein möglichst striktes antijüdisches Vorgehen durchzusetzen und abzusichern versuchten. Sie entwickelten eigenes Engagement und eine gewisse instrumentale Findigkeit, wo sie auch ganz einfach und geduldig gesetzliche und quasi-gesetzliche Regelungen auf Reichsebene hätten abwarten können. Sie zeigten Initiative. Das wird in anderen Städten ähnlich und möglicherweise schlimmer gewesen sein. Man mag von den an diesem Vorgehen Beteiligten nicht unbedingt Obstruktion gegenüber antisemitischen Maßnahmen erwarten, doch gab es eben auch zumindest noch die eine denkbare Handlungsalternative, gehorsam der Befehle aus Berlin und München zu harren.

Die Harburger Nazis wagten sich hier etwas weiter vor. Der Harburger Magistrat musste jedoch einlenken, da er der administrativen antisemitischen Praxis ein Stück zu weit vorausgeeilt war.

Ein auf den 27. Dezember 1933 datierender Vermerk des Magistrats berichtet über den schließlich erfolgten Rückzug ohne Gesichtsverlust - der Beschluss wurde nicht zurückgenommen, seine Durchführung lediglich ausgesetzt.

Der direkte und indirekte Wirtschaftsboykott von Firmen jüdischer Eigentümer war zu jenem Zeitpunkt offensichtlich noch nicht umfassend aufrechtzuerhalten.

Gründe dafür waren insbesondere

[Staatsarchiv Hamburg, 430-5, 181-08]

 

Zeitzeugin

Johanna Meier, die selber 1939 der Verfolgung nur knapp entronnen war, berichtet in ihren 1943 im Schweizer Exil geschriebenen Erinnerungen über das weitere Schicksal jüdischer Geschäftsinhaber aus Harburg. Es sind die immer wiederkehrenden Geschichten jener Zeit von plötzlicher Armut, sozialem Abstieg, Not, Elend und Verzweiflung: 

»Reiss musste sein gutes, übernommenes Schreib- und Papiergeschäft en Gros ans Personal verkaufen, soll im Weltkrieg Hauptmann gewesen sein, bekommt Schlaganfall. Kaum genesen, wandert er mit Frau und zwei Kindern nach Amerika aus. […] Reiss bekommt zweiten Schlaganfall und stirbt, 45 Jahre alt. Die verwöhnte Frau zieht mit ihren zwei Kindern in eine Dachwohnung und ernährt sich kümmerlich mit Handschuhnähen.

Markus - Mann, Frau, jung verheiratete Tochter, altes, gutes Bettengeschäft, muss Konkurs anmelden. Christliche Kundschaft bleibt weg. Frau bekommt vor Aufregung Lähmung, die sich nach kurzer Zeit mit tödlichem Ausgang wiederholt. […] Der Vater, 55 Jahre (alt), sucht in Hamburg vergebens kleine Beschäftigung, isst gelegentlich Mittagessen bei Bekannten, wo man ihm etwas gibt.

Hirschfeld (Bettengeschäft) müssen auch mangels christlicher Kundschaft Konkurs anmelden. Sie haben zwei Töchter. Die Älteste ist verheiratet mit Rechtsanwalt Erich Meier. Da er nicht praktizieren darf, wandern sie nach Mailand aus, wo sie eine befriedigende Existenz finden. Nach kurzer Zeit müssen sie auch aus Italien raus. Die alten Hirschfelds verkaufen alles (Übrigens sind sie erst 45-50 Jahre), und aus dem Erlös des Warenbestandes retten sie ein per (?) 1000 RM, mit denen sie ihre Kinder in Mailand besuchen. Dort sterben beide kurz nacheinander. Die Töchter gehen nun nach Argentinien, wo auch die zweite heiratet, und es soll ihnen leidlich gehen.

Fliess, ein glänzendes, man kann wohl sagen: das beste Damenmodegeschäft in Harburg. Er muss auch verkaufen und reist nach vielen Enttäuschungen und Schwierigkeiten mit Frau und drei erwachsenen Kindern nach Argentinien. Dort beginnt das schwere Ringen ums tägliche Brot. Frau Fliess kann sich gar nicht gewöhnen. Sie geht heimwehkrank alltäglich zum Hafen, um deutsche Schiffe zu sehen. Sie stirbt, 48 Jahre alt, nach kurzer Zeit völlig gebrochen an einem drei Monate währenden, äußerst schmerzhaften Leiden. […]

Jacobsohn, Junggeselle, Inhaber eines Manufaktur- und Modewarengeschäftes, reist und besucht Landkundschaft, ist dort beliebt und alteingeführt, 70 Jahre alt, hat vor kurzem seine Schwester verloren, der Küche und Verkauf im Laden unterstand. Holt sich in der Umgegend 30jähriges, tüchtiges Mädel, Tochter alter Bekannter, sie ist rasch eingearbeitet. Jacobsohn wird angezeigt wegen Rassenschande. Das Mädel weiß den Mund zu gebrauchen, lacht die Richter aus: ‚Dann würde ich mir wahrhaftig keinen 70jährigen Greis aussuchen!’ Klage wird niedergeschlagen. […]

Mosberg, feines Herrenhut-Geschäft, sieht den schwindenden Kundenkreis aus ersten Reihen und erschießt sich. […] 

Poppert, Confitürengeschäft, verheiratet mit Arierin, kinderlos. Er bekommt nur billige Sachen, später gar nichts mehr von den Fabrikanten geliefert. Er hat zwei christliche Kinder von Seiten seiner Frau adoptiert und erziehen lassen. Auf ihre Eingabe kommt ein P.G., das heißt Parteigenosse, zur Rücksprache. Sie sagt: ‚Alles hat mein Mann für den Jungen und das Mädel getan, Lehre, Ausbildung, und sehen Sie diese schöne Bibliothek, hat er ihnen auch nach und nach geschenkt. Hier ist sogar des Führers ‚Mein Kampf’!’ - ‚Allerhand für einen Juden, das hätte ich den Menschen gar nicht zugetraut!’ - Indes hilft alles nichts. Ihr Mann muss dem Neffen das Geschäft abtreten und darf sich nicht mehr darin sehen lassen. Basta, Schluss - Er muss, arm wie eine Kirchenmaus, ins Ausland, sie führt mit dem arischen Neffen das Geschäft weiter.’ […]"»«

Und sie erzählt von dem Versuch, jüdische Geschäftseigentümer mit dem Vorwurf der »Rassenschande« zur Geschäftsübergabe zu zwingen:

»Jacobsohn, Junggeselle, Inhaber eines Manufaktur- und Modewarengeschäftes, reist und besucht Landkundschaft, ist dort beliebt und alteingeführt, 70 Jahre alt, hat vor kurzem seine Schwester verloren, der Küche und Verkauf im Laden unterstand. Holt sich in der Umgegend 30jähriges, tüchtiges Mädel, Tochter alter Bekannter, sie ist rasch eingearbeitet. Jacobsohn wird angezeigt wegen Rassenschande. Das Mädel weiß den Mund zu gebrauchen, lacht die Richter aus: ‚Dann würde ich mir wahrhaftig keinen 70jährigen Greis aussuchen!’ Klage wird niedergeschlagen. […]«

[Memoiren, Privatbesitz Netzer, in Kopie Privatbesitz Heyl]

 

Alfred Gordon

In Harburgs Gemeinde wirkte in jenen Jahren Alfred Gordon als Kantor, Lehrer und Prediger. Er bemühte sich, seiner Gemeinde auch in den Zeiten der Not beizustehen.  

Zur Person Alfred Gordons...

Am 10. April 1933 wandte Gordon sich mit einem Brief zum Pessachfest an seine Gemeinde in Harburg und den umliegenden Dörfern im Landkreis Harburg [Originaldokument]. Hier deutet Prediger Gordon das beginnende Verfolgungsgeschehen als eine Probe für das Judentum, die es zu bestehen gelte, und - hier ist Gordon ganz Seelsorger seiner Gemeinde - die zu bestehen sei. In seinem Schreiben heißt es:

»Ich habe das Bedürfnis, mich in diesen Pessachtagen an all diejenigen meines Seelsorgebezirks zu wenden, die nicht Gelegenheit haben, einem Gottesdienst beizuwohnen. Sowohl an Euch, liebe Freunde aus meiner Harburger Gemeinde, die Ihr aus irgendwelchen Gründen heute dem Gotteshause fernbleibt, als auch an Euch, liebe Freunde, in den kleinen Bezirksgemeinden richtet sich mein Wort in dieser so ernsten Zeit. Noch nie in meiner Amtszeit hatte ich so stark das Gefühl wie gerade jetzt, dass doch in weiten Kreisen die Erkenntnis sich durchsetzt, dass unsere heilige Religion, die heute ja unser Schicksal ist, auch unser Trost und Halt zu sein vermag. In diesen herben Notzeiten, da wird vielleicht manchem von Euch - bewusst oder unbewusst - das Wort des Psalmendichters auf den Lippen gelegen haben: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen, bleibst fern meiner Hilfe, meines Schreiens Wort; mein Gott, des Tages rufe ich, aber Antwort wird mir nicht, des Nachts schreie ich, aber ich finde keine Beschwichtigung. [Psalm 22,2-3] Es ist eine große Angst in uns eingezogen; die materielle Basis unseres Lebens scheint uns bedroht, die seelische Not ist fast noch größer; von dieser seelischen Not zu sprechen, ist nicht nötig, das hat der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in wahrlich erschütternder Weise in seinem Aufruf getan.«

Gordon ordnete das Geschehen ein in die Geschichte des Judentums, die eine Geschichte unmittelbar zu Gott sei, denn schließlich solle

»aus allen Erschütterungen des historischen Geschehens […] der Finger Gottes sichtbar werden.« 

Alfred Gordon verwies darauf, dass jeder seine

»eiserne Pflicht [habe], in dieser Notzeit vor allem sich zu fragen, ob er stets und ständig, dem Gebot unserer Torah treu, in höchster Redlichkeit und unter Einsatz jedes Opfers der Gemeinschaft gedient hat; denn darauf kommt es wesentlich an, dass wir unter Zurückdrängung allen Egoismus, der engeren und weiteren Gemeinschaft dienen. Nicht, dass es jedem Einzelnen von uns gut ergehe, sondern dass die Gesamtheit - sei es die Gemeinde, sei es das Gesamtjudentum und sei es der Staat, in dem wir leben - sich wohl befinde, ist die Forderung des Judentums.«  

Um zu erklären, wie es zu dem Antisemitismus komme, warum ausgerechnet die Juden Opfer eines solchen Schicksals würden, verwies der Prediger auf ein Bibelwort, das die Antisemiten den Juden immer wieder als hochmütigen Auserwählungsanspruch vorwarfen, um es jedoch gleich in seiner Bedeutung zu erklären:

»An den Füßen des Sinai wurde uns zugerufen: Wihejisem Li Segulo Micol Hoa­mim. Ihr seid auserwählt von allen Völkern. Wenn jemand glaubt, dass er damit Vorrechte beanspruchen kann, so irrt er sich. Wenn jemand glaubt, dass diese Wort den Keim für unbegründeten Hochmut enthalte, so täuscht er sich. Es ist eine ewige Aufgabe, die uns zuerteilt ist, eine Aufgabe, die unsagbar schwer ist. Wir wissen es aus den Ereignissen unserer Geschichte, dass die Augen der Welt auf jeden einzelnen Juden gerichtet sind, und dass jeder einzelne haftbar gemacht wird für das Tun der Anderen und alle haftbar werden für das Tun des Einzelnen. Darin sind wir ausgewählt vor allen Völkern, das ist das große Erziehungsproblem, das uns auferlegt ist, unter dessen Joch wir deutschen Juden heute fast zusammenzubrechen drohen. 

Gordon sah die Verfolgung als Aufforderung an die Juden zur Umkehr -

»Diese Stunden der Not müssen uns zur Besinnung veranlassen und unsere Aufgabe als jüdische Menschen uns noch viel klarer als bisher vor Augen stellen. Unsere Aufgabe als jüdische Menschen ist keine andere, als die, das Gute zu tun und ehrlich und redlich in jeder Regung unseres Lebens zu wandeln. Alles Andere, die ganze Torah, ist nichts anderes, als der Wegweiser zu diesem Ziel.« 

In seinen Äußerungen beschrieb Alfred Gor­don den Antisemitismus als eine Krisenerscheinung und Ausdruck der Irrationalität, die zu der seiner Ansicht nach stattgefundenen Revolution gegen die absolute Herrschaft der Vernunft und des Egoismus gehöre; schließlich seien Religion und Glaube quasi die legitimen Geschwister der Irrationalität:

»Seid Euch bewusst. liebe Freunde, dass das Erleben unserer Tage nicht ein Ende bedeutet. Eine Revolution in ungeheurem Ausmaß ist über uns dahingegangen. Jede Revolution ist stark von Gefühlsmäßigem getragen. Diese Revolution musste es besonders sein, denn die Ratio, der Verstand in seiner ganzen Einseitigkeit ist Schuld daran, dass das Wirtschaftsleben aus seinen Angeln gehoben war, dass der krasse Egoismus Maschinen da hinstellte, wo Menschen mit ihren Lebensnotwendigkeiten stehen sollten. Dass sich die menschliche Natur dagegen aufbäumt, ist allzu verständlich. Dass heute an Stelle der einseitigen Herrschaft des Verstandes, das Irrationale, das rein Gefühlsmäßige getreten ist, das fühlten wir seit Jahren. Vielleicht haben auch wir Juden es nicht verstanden, in unserem Leben in den vergangenen Jahrzehnten diese Kräfte, die nicht errechnet und gemessen werden können, ohne die wir aber weder glücklich noch zufrieden sein können, zu hegen und zu pflegen. Und zu diesen Kräften gehören vor allem die Religion und der Glaube.« 

Das Verfolgungsgeschehen, das im April 1933 noch ganz am Anfang stand, ordnete Gordon ein in die Reihe der Bedrohungen, denen das Judentum immer wieder ausgesetzt war. Als Reaktion auf die Bedrängnis empfahl er den ertragenden Heldenmut:

»Unsere Väter haben im Laufe unserer Geschichte Situationen erlebt, die unserer durchaus vergleichbar sind. Sie haben alles ertragen mit jenem Heldenmut, den viele leider nicht mehr verstehen. Sie konnten es ertragen, weil sie als wahrhafte Juden für ein Ideal ihr Leben hinzugeben bereit waren. Wahrhafte Juden aber waren sie, weil in ihnen nicht nur die Kräfte des rechnenden und messenden Verstandes, sondern auch die geheimnisvollen Quellen des Gemüts, des Glaubens, des Hoffens wirksam waren.« 

Gordon selbst fiel es, wie Mose, nicht leicht, tröstende Worte zu finden, er schrieb:

»Wir stehen in den Pessachtagen. Israel war aus Not und Sklaverei herausgezogen. Schlagt einmal auf, liebe Freunde, das uralte Buch unserer Bibel. Es war gewiss nichts Leichtes, diesen Menschen in Ägypten zu predigen, dass der Gott ihrer Väter noch lebe, dass er sehen würde ihr Elend und ihre Not. Wie ein Wurm windet sich Moses, der Führer, ja, er sucht sich dieser furchtbaren Aufgabe zu entziehen! Doch eine Stunde gibt es, in welcher dieser Heros der Geschichte am Ziele seiner Wünsche steht. Nicht, dass er schließlich an der Spitze seines bedrängten Volkes die Grenzen Ägyptens überschritt, ist das große Erlebnis, sondern dass er vor sich die Fluten des Meeres, hinter sich die nachjagenden Ägypter, zu der Erkenntnis kam: Wajaaminu Baadauneu Uwe-Mausche Awdau [2. Mose 14,31]. Sie hatten Emuno - Vertrauen, - Treue zu Gott und zu Mose seinem Knecht. Vertrauen auf Gott zu haben, nicht zusammenzubrechen in der Not unserer Zeit, zu den Führern und Lehrern unserer Gemeinschaft zu stehen, wissend, dass sie nur im Dienste des Göttlichen sich fühlen - das wird die Fluten des Hasses teilen und nach harten Wanderungen durch eine Wüste von Vorurteilen uns bringen in das gelobte Land einer anderen und besseren Zeit.

Der Platz des Juden in dem neuen Deutschland wird nicht derselbe sein, wie der der vergangenen Jahrzehnte. Aber auch der Platz des Deutschen im kommenden Vaterland wird sich verändern. Es wird wieder die Zeit kommen, in welcher man unserer Mitarbeit nicht verschmähen wird, in der man unsere Ehre und unseren guten Willen anerkennen wird! Dann werden wir zurückblicken auf diese Tage furchtbarer seelischer Not. Sie werden uns verklärt erscheinen und wir werden wissen, dass diese Tage uns besser gemacht haben, dass es Tage der Besinnung und Einkehr waren.  

Ein »Haus der Zukunft« sah Gordon entstehen, und der Weg dorthin war für ihn - in bester jüdischer Tradition - die religiöse Umkehr.

»Wir werden wieder zu würdigen wissen die Feier des Freitagsabend und der Sedernächte [abendliche Feiern zum Pessachfest in Erinnerung an den Auszug der Juden aus Ägypten]. Und vielleicht - und das hoffe ich - wird es uns nicht so schwer fallen, an den hohen Feiertagen unsere Geschäfte zu schließen und Opfer zu bringen für unsere heiligste Überzeugung! Helfe einer dem anderen, stütze einer den anderen in Wort und Tat und nehmen wir die Lehren und Erfahrungen dieser Zeit in eine bes­sere Zukunft mit hinüber, damit die Besinnung auf unser Judentum, auf unsere Religion, auf Bewusstsein der Verantwortung der Umwelt gegenüber, die tragenden Säulen werden, auf denen wir das Haus unserer Zukunft errichten.« 

 

Gordons Hoffnungen für die Zukunft jeden­falls trogen. Gleichgültig, wie sich die Juden verhielten, der Hass der Nazis war ihnen sicher. 

Was wurde aus Alfred Gordon?

[Originaldokument]

 

Fritz Sarne (Jahrgang 1906) lebte und arbeitete zwischen 1927 und 1934 in Harburg. Er beschrieb seine Erinnerungen in einer Tonbandaufzeichnung, die auf den 8. Januar 1990 datiert. Fritz Sarne ist Mitte der neunziger Jahre in den USA verstorben. Er berichtet: 

»Ich habe mehrere Jahre in der Kasernenstraße 38 gewohnt, dann bin ich nach der Werderstraße [heute: Am Werder] gezogen, was in der Nähe des Geschäftes war, wo ich beschäftigt war. Meine Zeit in Harburg war beendet mit dem Verkauf des Geschäftes an einen Herrn Göttsche, damals, 1933, in der Früh-Hitler-Zeit, nachdem Hitler zur Macht kam und der Buchhalter Sass, wohnhaft Am Reeseberg, alles versucht hat, mich in Verbindung mit dem Gauwirtschaftsleiter Dietrich, der auch dort als Dekorateur beschäftigt war, aus meiner Anstellung zu bringen, was ihm auch gelang, weshalb ich 1934 nach Hamburg verzog, wodurch meine Harburger Zeit beendet war.«

Die Ereignisse vom 1. April 1933 sind Fritz Sarne im Gedächtnis geblieben: 

»Ich wollte wie jeden Tag mit dem Dekorateur der inzwischen bereits an Göttsche verkauften Firma zum Mittagstisch ins Central-Hotel am Sand gehen. Ich sah vor den Geschäften jüdischer Inhaber die gröhlenden SA-Horden um Fritz Konerding, der ein Geschäft in der Wilstorfer Straße hatte und ein Obernazi war. Sie standen vor dem Kaufhaus Horwitz, vor Steins Bettenhaus, vor M. M. Friedmann, die alle von der SA belagert waren. Und als ich zum Sand kam, versuchte die SS, die SA, mich an dem Betreten des Central-Hotels zu hindern, an der Spitze ein Herr Wilhelm Koppe. Wilhelm Koppe war ein Kaffeegroßhändler, der auf der Westseite des Sandes sein Büro hatte und früher ein guter Kunde bei Bernhard Meier war. Ich habe ihm viele Maßanzüge verkauft, er trug nur englische Stoffe. Seine Eltern waren sehr gute Kunden. Er wollte mich verhaften, was von einem Schupohauptmann, den ich sehr gut kannte, verhindert wurde.«

Wilhelm Koppe traf er Jahre später wieder:

»In dem Reichsbahn-Arbeitslager Posen-Gutenbrunn wurde eines Tages der Befehl ausgegeben, daß alle Insassen zum Appell anzutreten hätten, der durch Gauleiter Greiser und den Höheren SS-Polizeiführer Ost, SS-Obergruppenführer Wilhelm Koppe, abgenommen wurde.

Mein Gefühl, das ich damals hatte, kann ich kaum schildern, als ich den SS-Standartenführer der SS-Standarte 17, den Harburger Kaffeegroßhändler Wilhelm Koppe, in seiner prachtvollen SS-Uniform mit weißen Aufschlägen an mir vorbeimarschieren sah, um unseren Elendshaufen zu besichtigen. Das war ein Zeichen dafür, wozu es ein Nazi in der Nazi-Hierarchie bringen konnte. Später wurde er, wie ich hörte, angeklagt, für den Tod von über 300.000 jüdischen Verfolgten verantwortlich zu sein.«

Was wurde aus Fritz Sarne?

Was wurde aus Wilhelm Koppe?

 

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