»Dialektik der Aufklärung« der anderen Art - Generationen nach Auschwitz

von Dr. Matthias Heyl

Fachaufsatz [Polis 4/2001, 3-6 (ISSN 1433-3120, Vlg. Leske + Budrich, Opladen]


»Ich kann es nichts mehr hören«, so werden immer wieder deutsche Jugendliche in ihrer Reaktion auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus zitiert. Es gebe »Ermüdung« angesichts des Themas, heißt es, und Schüler wie Lehrer beklagen ein »Zuviel des Guten«. Manche Schüler und Studierende beschreiben ihren Unterricht über Holocaust und »Drittes Reich« als eine »permanente Projektwoche«.

Die Wochenzeitung »Die Zeit« berichtete am 10. August 2000 – mitten in der Debatte über Rechtsextremismus in Deutschland, die nur einen Sommer währte und einige Millionen Mark an Fördergeldern freisetzte – unter dem Titel »Holocaust - was soll das sein?« über eine neue Umfrage, die belege: »Deutschlands Jugend hat keine Ahnung«. Heidrun Holzbach referierte einleitend bekannte Ergebnisse einer Emnid- und einer Forsa-Befragung, um dann eine »neue, bislang unveröffentlichte Untersuchung« des Emnid-Instituts zu zitieren. Demnach »können rund zwei Drittel der 14- bis 18-jährigen Deutschen mit dem Begriff Holocaust nichts anfangen. Bei den Volks- und Hauptschülern sind es sogar 87 Prozent, die von der Schoah keine Ahnung haben, unter jungen Menschen mit Abitur oder Fachhochschulreife immerhin noch 43 Prozent.« 

Die veröffentlichten Ergebnisse vorliegender empirischer Erhebungen zum Kenntnisstand heutiger Jugendlicher sind überaus widersprüchlich. Bereits 1998 hatte die Wochenzeitung »Die Woche« eine repräsentative Befragung Jugendlicher im Alter von 14 bis 18 Jahren veröffentlicht, die sie von dem Meinungsforschungsinstitut Forsa vom im Juni 1998 hatte durchführen lassen. Im Kern der Befragung von 506 Jugendlichen standen deren Kenntnisse. Gefragt wurde (in Klammern jeweils der Anteil der als richtig bewerteten Antworten), ob Hitler den Krieg überlebt habe (88%) und nach Auschwitz-Birkenau (69%) den Ereignissen in der »Reichskristallnacht« (41%), Beginn (35%) und Ende (65%) des Zweiten Weltkriegs, den Nürnberger Gesetzen (13%) und der Wannseekonferenz (7%). Bei der Frage nach der Zahl der »in Konzentrationslagern« »gestorbenen« Juden gaben 29% der befragten Jugendlichen eine Zahl zwischen fünf und sieben Millionen an, was als richtig bewertet wurde. Dabei führt bereits die Frage mit der erwarteten Antwort historisch in die Irre – etwa die Hälfte der ermordeten Juden wurden nicht in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet, sondern in den Gettos, bei Erschießungen usw. Nach ihrem Interesse und der Glaubwürdigkeit ihres Unterrichts über den Nationalsozialismus und den Holocaust befragt, gaben 34% ein »sehr großes / großes« und 15% ein »eher großes« Interesse zu erkennen, die andere Hälfte bekannte sich zu gleichen Teilen zu einem »eher geringen« oder »geringen / sehr geringen« Interesse. Glaubwürdigkeit konstatierten für ihren Unterricht 67%, 15% hielten ihn für »eher glaubwürdig«, während 8% ihn für »eher unglaubwürdig« und 4% für »unglaubwürdig« oder »sehr unglaubwürdig« hielten.

Anfang des Jahres 2000 sorgte die Publikation einer von Alphons Silbermann und Manfred Stoffers publizierte Studie für Aufsehen und Schlagzeilen, in denen die prozentualen Ergebnisse zuweilen – auf die Bevölkerung der Bundesrepublik bezogen – in Millionen umgerechnet wurden. Bereits im Mai 1997, also etwa ein Jahr vor der erwähnten Forsa-Studie, waren für diese Studie 2.197 Bundesbürger aller Altersgruppen im Auftrag des Kölner Instituts für Massenkommunikation von Emnid zu ihrem Verhältnis zur Geschichte des Holocaust befragt. Ein Ergebnis dieser Untersuchung für die Gruppe der Jugendlichen zwischen vierzehn und siebzehn Jahren wurde als besonders erschreckend gehandelt: demnach wussten 21,9 Prozent der Befragten dieser Altersgruppe nicht, »wer oder was Auschwitz war«. Zweifel hinsichtlich der Validität dieser Befragung scheinen allerdings angesichts der niedrigen Zahl der Befragten dieser Altersgruppe mehr als nur erlaubt: auf der Basis von 88 Jugendlichen (also etwa drei bis vier Schulklassen) wurden diese Daten gewonnen, und die 21,9%, die angaben, nicht zu wissen, »wer oder was Auschwitz war«, entsprechen lediglich 19,272 Schülerinnen und Schülern. Allein auf die Breite der Erhebung bezogen erscheint die in der »Woche« publizierte, ein Jahr später durchgeführte Forsa-Untersuchung mit 69 Prozent als richtig gewerteter Antworten dann doch als zuverlässiger.

Eine Crux der quantitativen Untersuchungen ist, dass die Frage, wie weit Jugendliche »sozial erwünscht« oder gerade »sozial unerwünscht« antworten, ausgeklammert bleibt. Die Fragen nach Nationalsozialismus und Holocaust haben in der deutschen Gesellschaft eine hohe emotionale Aufladung, die mit einer hohen sozialen Erwünschtheit »adäquater« Antworten einhergeht – was gelegentlich auch den Reiz des Tabubruchs erhöht. Ein zweites Problem scheint mir zu sein, dass Kenntnisse abgefragt, aber in der Regel die ihnen beigemessene Bedeutung nur unzureichend erkennbar wird. An die Frage, was die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust heutigen Jugendlichen bedeutet, wie sie mit dieser Geschichte zu leben gedenken, wird durch derlei Studien nicht wirklich berührt. Hier bedürfte es qualitativer Untersuchungen, die etwa in Gruppengesprächen und Einzelinterviews mit den Experten vor Ort, den Schülern, Lehrern und Eltern, dazu angetan wären, gleichzeitig das an den Schulen vorhandene Know-how und »Know-how-not« für den anstehenden Generationenwechsel in unseren Lehrerzimmern zu bergen. Die Hamburger Forschungs- und Arbeitsstelle »Erziehung nach/über Auschwitz« bemüht sich seit 1997 gemeinsam mit dem Institut für Psychologie und Sozialforschung der Universität Bremen um die Etablierung einer solchen Studie. Während angesprochene Schulbehörden und Kultusministerien auf knappe Kassen (man möge Bundesmittel einwerben), mangelnde Relevanz oder – seltener - auf die eigene Furcht vor möglicherweise »negative« Ergebnisse verweisen, fürchten Bundesministerien, sich durch eine Förderung dem Vorwurf auszusetzen, in die Kulturhoheit der Länder einzugreifen. Kooperationswilligen ausländischen Kollegen und Einrichtungen ist das Nichtzustandekommen einer solchen Untersuchung kaum mehr zu erklären.

Grundproblem für viele Diskussionen um die pädagogische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust ist, dass sich immer wieder als Trend geschilderte und verallgemeinerte Wahrnehmungen kaum hinsichtlich ihrer Repräsentativität belegen oder verwerfen lassen. Daher sind die folgenden Überlegungen auf der Basis vieler, aber nicht nachweisbar repräsentativer Gespräche mit Lehrern, Schülern, Referendaren und Studierenden von einer gewissen Vorläufigkeit, wiewohl sie oft gerade in diesen Gesprächen häufige Bestätigung erfahren.

Auffällig scheint mir zu sein, dass das Lamento von Nachgeborenen über ein »Zuviel« des Unterrichts zum Thema Holocaust nicht unweigerlich mit einem fundierten Wissen der so Klagenden über die Geschichte des Holocaust einhergeht – im Gegenteil. Gelegentlich klingt die Klage der Jungen gar wie ein Playback mancher Alten, denen jede Konfrontation mit diesem Teil ihrer Geschichte als ein »Zuviel« erschien, und das oft schon seit 1945. Es erscheint nachvollziehbar, dass das in vielen nicht-jüdischen deutschen Familien anzutreffende, vielbeschriebene »große Schweigen« über die eigene Geschichte im Nationalsozialismus bei manchem Nachgeborenen mit der – oft unbewussten – Vermutung einhergeht, die Massivität dieses Schweigens korrespondiere mit der Schwere der Schuld, an der man besser nicht rühren sollte. Ein Beispiel: Nach einem Seminargespräch mit Max Rotter bedankt sich ein Student dafür, dass der Überlebende seine Geschichte mit den Studierenden geteilt habe. »Alles«, erklärt er, »was ich über den Zweiten Weltkrieg meines Großvaters weiß, ist, dass er in britische Gefangenschaft kam und dass sie dort Fußball spielten. Das war der Zweite Weltkrieg meines Großvaters. Mehr weiß ich von ihm nicht, und ich traue mich nicht, ihn zu fragen.« Nach einer kurzen Pause ergänzt der Mittzwanziger: »Er ist mein Großvater, ich habe diesen alten Mann sehr lieb, und ich möchte nicht, dass sich daran etwas ändert.« Und so komme es, dass er aus dem Bericht Max Rotters mehr über die Generation seines Großvaters erfahren habe als von seinem Großvater selbst.

Aus diesem Beispiel wird gleichzeitig deutlich, dass wir nachgeborenen deutschen Pädagogen Teil des Problems sind, um dass es hier geht. Der Wunsch, »unbeschadet« mit Blick auf Selbstbild und das Bild von der eigenen Familie aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust hervorzugehen, erscheint durchaus verstehbar, führt aber anscheinend zu Barrieren im Erkenntnisinteresse.

Die Identifikation mit den verfolgten Juden hat für viele von uns – zumindest temporär – eine wichtige Rolle gespielt. Davon zeugen zahlreiche Schulprojekte zur Geschichte der jüdischen Gemeinschaft vor Ort unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Verfolgung ebenso wie die Projekte zur Geschichte jüdischer Schüler und Lehrer an unseren Schulen. Der niederländische Erziehungswissenschaftler Ido Abram hat darauf hingewiesen, dass die von den Jugendlichen vielfach erwartete Empathie mit den verfolgten Juden eine Überforderung darstelle; es zeuge »von Naivität zu glauben, dass Schüler eine größere Nähe zu den Opfern entwickeln, wenn man ihnen die Leiden dieser Opfer in allein Einzelheiten vor Augen führt.« Für – insbesondere männliche – Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren scheint es oft attraktiver, sich mit den »Starken« zu identifizieren. Zugleich hat die »soziale Erwünschtheit« einer »Betroffenheit« und der Identifikation mit den Verfolgten bei diesem Thema besonderes Gewicht, und gelegentlich scheint die Abwehr der Jugendlichen gegen eine vorgegebene »Choreographie ihrer Emotionen« von außen nachvollziehbar. Erwachsene, Pädagogen, geben vor, welches der »angemessene« Umgang mit dieser Geschichte sei, und suchen selber in Betroffenheitsgesten Halt und Schutz. Ein Beispiel: Auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen forderten Schilder von den Besuchern »angemessene« Kleidung und »angemessenes« Verhalten. Ein Überlebender nahm den Lehrerinnen und den Schülern einer Besuchergruppe etwas von ihrer mitgebrachten Anspannung (und gab ihnen etwas von seiner eigenen zu verstehen), als er ausrief: »›Angemessene Kleidung‹? Als ich hier war, damals, da waren das die Lumpen, die wir trugen, oder die SS-Uniform. - ›Angemessenes Verhalten‹? Das hieß damals ›Morden‹ oder ›Verrecken‹. Was heißt hier heute: ›angemessen‹?«

Bemühungen, die Relevanz des Geschehenen kurzschlüssig aus aktuellen Geschehnissen heraus herzuleiten – etwa mit der Gedenkstättenfahrt als Reaktion auf »ausländerfeindliche« Vorfälle – greifen ebenfalls kurz. Für die Legitimierung von Toleranz, Demokratie und Mitmenschlichkeit ist der Weg nach Auschwitz ein Umweg, und mit dem Slogan »Damals waren’s die Juden, heute sind’s die Türken« wird man weder der historischen Situation der Juden damals noch der aktuellen heutiger Migranten gerecht. Schlimmer noch: Schülern aus Migrantenfamilien böte man gnadenlos Auschwitz als historische Folie für ihre Zukunft unter uns an.

Bei keinem anderen Thema politisch-historischer Bildung erwarten wir von Jugendlichen in gleichem Maße Betroffenheit und Identifikation. Manche von ihnen haben selber wenig Erfahrung mit ihnen entgegengebrachter Empathie – woher sollen sie die Empathie für andere nehmen, ohne dass sie – losgelöst vom Thema Holocaust – vorher »eingeübt« worden wäre – ein »Dauerauftrag« dies für jede Erziehung, und gerade nach Auschwitz!

Theodor W. Adorno hat in seinem insbesondere in seinen Eingangssätzen weithin und viel zitierten, im weiteren aber oft anscheinend überlesenen Aufsatz zur »Erziehung nach Auschwitz« eine konkrete Forderung an die Erziehung über Auschwitz, die Auschwitz selber zum Gegenstand hat, formuliert: Er erklärte, er glaube nicht, »Aufklärung darüber, welche positiven Qualitäten die verfolgten Minderheiten besitzen, könnte viel nutzen. Die Wurzeln« für das Geschehen seien viel mehr »in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen.« Nötig sei etwas, das er »einmal die Wendung aufs Subjekt genannt habe. Man muss die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, dass sie solcher Taten fähig werden, muss ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, dass sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewusstsein jener Mechanismen erweckt.« Das Wiederholungsrisiko liegt nicht bei den Opfern, sondern bei den »Tätern und Zuschauern«. So gesehen bekommt Adornos Forderung, aller politischer Unterricht nach Auschwitz müsse Soziologie werden, neue Nahrung: wie wurden aus »ganz normalen Menschen«, aus Zuschauern Täter, selten Retter? Wo aber sind beispielsweise unsere Projekte zu den Nazis, den Tätern und Zuschauern, die unsere Schulen seinerzeit hervorgebracht haben? Gelegentlich mag es scheinen, als habe die Hinwendung zur Geschichte der jüdischen Verfolgten die Funktion, die den nicht-jüdischen Deutschen gleichsam »näheren« Täter und Zuschauer zum Verschwinden zu bringen, als solle ein »Gedenken« an die Stelle eines historisch konkreten Erinnerns treten, anstatt ihm voranzugehen. Gedenken für die Opfer scheint möglich, Erinnerung an die konkreten Täter und Zuschauer – zumal »vor Ort« – weiterhin schwierig, weshalb der Holocaust zuweilen wie eine »Tat ohne Täter« (Monika Richarz) wirkt,

So, wie die Geschichte der Täter und Zuschauer, ihrer Zwischenstufen, Handlungs- und Entscheidungsspielräume im deutschen Unterricht über die und in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust unterbelichtet erscheint, ist auch ein pädagogisch ausgesprochen instruktiver Teil historischer und sozialwissenschaftlicher Forschung bei uns noch ausgeblendet. Bekannt sind die von der Frankfurter Schule im Exil begonnenen »Studien zum autoritären Charakter« und das unter deren Einfluss entstandene Experiment Stanley Milgrams. Eine Studentin merkte in einem meiner Seminare an, dass sie erst in der aktuellen intensiveren Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust begriffe, dass der Politikunterricht über das Milgram-Experiment eine Laborsituation hergestellt hätte für etwas, was man mit dem Blick in die Geschichte konkreter und lebendiger hätte erforschen und erfahren können. Eva Fogelman, eine Schülerin Milgrams und Tochter von Holocaust-Überlebenden, begann unter dem Eindruck der Studien ihres Lehrers zu der Frage, wie aus »ganz normalen Menschen« Täter werden, zu interessieren, was die Helfer und Retter der Juden, von denen auch ihre Eltern berichteten, dazu befähigte, das Richtige, das Humane zu tun. In ihren Interviews stellte sie fest, dass dies genauso »ganz normale Menschen« waren, die oft genug selber in autoritären Strukturen groß geworden sind. Die inzwischen recht breite Retterforschung – und etwa eines ihrer Standardwerke, die von Samuel und Pearl Oliner verfasste Studie zur »altruistischen Persönlichkeit« – sind hierzulande noch weithin unbeachtet, wodurch Henryk M. Broders Anmerkung zum Film »Schindlers Liste« Bekräftigung erfährt, für nicht-jüdische Deutsche werde die Bewunderung gegenüber den Rettern weiterhin »von einem anderen Gefühl überdeckt: der Scham darüber, dass es nicht mehr Schindlers gegeben hat, sowie der Frage, warum die eigenen Eltern oder Großeltern immer so heftig darauf beharrt haben, man habe nichts tun können, wo doch ein Mann wie Schindler vom Gegenteil zeugt. So wird er dazu neigen, Schindler als Einzelfall abzutun, sozusagen den ersten Preis in einem Geschichtslotto, bei dem sonst nur Nieten gezogen wurden.«

Letztlich scheinen unsere Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der des Holocaust im besonderen immer wieder auch von – psychologisch nachvollziehbarer – Abwehr mitbestimmt. Das gilt nicht nur für die nachgeborenen Jugendlichen, sondern auch für uns Erwachsene. Ein Teil zur »Verarbeitung« der eigenen Geschichte nötiger schmerzlicher Auseinandersetzung ist in der Generation der – verallgemeinernd gesprochen – »Täter und Zuschauer« unterblieben, und das zeigt Spuren bis in die Gegenwart. Manche ihrer Kinder, eine zur »68er-Generation« definierten Minderheit ihrer Generation, haben die Frage nach der elterlichen Beteiligung deutlich gestellt, und zuweilen haben einschnappende Reflexe beide, sie selbst und ihre Eltern, vor der Auseinandersetzung geschützt. Massiv vorgetragene, durch Schuldzuweisungen grundierte Vorwürfe haben es den Eltern zuweilen erleichtert, die Fragen (»solange Du Deine Füße unter meinem Tisch hast…«) als unberechtigt zurückzuweisen; das Schweigen der Eltern bestätigte die Nachgeborenen oft genug, versah ihre Rebellion und auch die Loslösung Pubertierender von ihren Eltern mit zusätzlichem moralischen Gewicht und ersparte schließlich allen Beteiligten das schmerzliche und differenzierte Klein-Klein der Auseinandersetzung. Nachdrücklich angemerkt sei, dass hiermit nicht in das Horn einer »68er-Schelte« gestoßen sei, die sich oft eigentlich und gerade an ihren unleugbaren Verdiensten in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stößt.

Nachgeborene der »dritten« und »vierten Generation« können diese Verschränkungen im schwierigen Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust oft ebenso wenig deuten, wie wir selbst. Was sie oft intuitiv begreifen, ist, dass die zuweilen erstarrenden Formen der Auseinandersetzung ihrer Vorgängergenerationen etwas »Falsches« in sich tragen. Ihre Abwehr gegenüber dem Thema erhält oft Unterstützung durch die unseren aufklärerischen Bemühungen ebenfalls innewohnende Abwehr.

Aus dieser – inzwischen ebenfalls schon historischen – Klemme kommen wir bestenfalls nur durch Reflexion über unsere Motive, über unsere eigene Abwehr, die gelegentlich auch in unsere Bemühungen um Aufklärung eingeht. Reifer Umgang mit der eigenen Geschichte heißt auch, das eigene kritische Vermögen gegen sich selbst zu richten, sich der Geschichte zu stellen, damit sie uns nicht stellt.

Das »Ich kann es nicht mehr hören« jedenfalls ist nicht neu und klingt wie ein Echo durch die Generationen. Es hat im Kern sogar – wie selbst die notorische Leugnung des Holocaust – etwas von der Anerkenntnis, dass sich mit dieser Geschichte so einfach nicht leben lässt, weshalb man sie beiseite zu schieben bemüht ist. Tun wir das nicht auch, wenn von wir von unserer Betroffenheit so ausführlich sprechen, dass wir etwa die »Betroffenen« dahinter zum Verschwinden bringen? Und selbst das oft mit Vehemenz vorgetragene Bekenntnis zum »Desinteresse« an dieser Geschichte hat eben in der Vehemenz seines Vortrags noch einen Schlüssel: wen diese Geschichte nicht mehr interessiert, der hat es nicht mehr nötig, so lautstark auf seinem Desinteresse zu beharren. Gegen echtes, kaltes Desinteresse stünden unsere Chancen schlechter, uns und den Nachgeborenen Zugänge zum Geschehen zu eröffnen.