Holocaust, Erziehung und Unterricht

von Prof. Dr. Ido Abram, Amsterdam

Vortrag aus Anlass der Eröffnung der FAS am 20. Mai 1998 in Hamburg


 

Auseinandersetzung mit dem Holocaust

Es gibt einige wichtige Gründe zu nennen, warum sich Erzieherinnen, Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer - wie auch Schülerinnen, Schüler und andere Jugendliche - intensiv mit dem Holocaust auseinandersetzen sollten.

Zu allererst geht es darum, sich selbst, die menschliche Art, kennenzulernen. Der Holocaust lässt einerseits erkennen, wie schlecht »schlecht« sein kann, zeigt aber andererseits auch, wie ein Mensch über sich hinauswachsen kann, wenn er anderen hilft.

Aggression kennen wir alle, sie steckt in jedem von uns. Erziehung kann uns lehren, die Aggression dafür zu benutzen, etwas zu schaffen statt zu vernichten, aufzubauen statt zu zerstören, oder Konflikte in Richtung eines Dialogs zu wenden (mit der Einschränkung, dass es Konflikte gibt, die unlösbar sind).

Eine weitere Begründung für die Beschäftigung mit dem Holocaust finden wir darin, dass es gilt, jeden, vor allem die Jugendlichen, vor Vergleichbarem zu warnen, das auch heute noch stattfindet. Oder in einer Formulierung des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi:

»Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen. Das ist der Kern dessen, was wir zu sagen haben.«

Ein dritter Grund ist, dass wir uns nicht unter die Täter und Holocaust-Leugner reihen wollen. Über die Leugner sagte der französische Richter Roger Errera, dass es ihr Ziel sei,

»unsere Erinnerung, das einzige Grab der Toten, zu vernichten, und jede Spur des Verbrechens selbst aus unserem Gedächtnis auszulöschen.«

 

»Erziehung nach Auschwitz«

Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno prägte den Begriff von der »Erziehung nach Auschwitz« in seinem gleichnamigen Aufsatz im Jahre 1966. Dort formulierte er:

»Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.«

Erziehung nach Auschwitz bedeutet zweierlei: einerseits den Unterricht über den Holocaust, die Schoah oder die »Endlösung«, und andererseits Erziehung im allgemeinen. 

 »Erziehung nach Auschwitz« mit dem Nachdruck auf dem ersten Wort Erziehung bedeutet: Erziehung muss sich auf Entbarbarisierung richten. Barbarei – wie Auschwitz – ist ein Ergebnis des Fehlens von Liebe und Wärme, ist Kälte, das Unvermögen zur Identifikation: das Unvermögen, sich in jemanden anderes und in andere Situationen hineinzuversetzen. Mit anderen Worten: Barbarei ist das Unvermögen zur Empathie.

Erziehung nach Auschwitz bedeutet, Empathie (die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen) und Wärme (eine Atmosphäre von Geborgenheit, Sicherheit und Offenheit) zu fördern. Es gilt nicht nur, dass die/der Erzogene (das Kind, die/der Jugendliche) sich mit anderen Menschen und anderen Situationen beschäftigt, sondern reflektiert, nachdenkt, sich der genannten Kälte bewusst wird, Hass und Aggressionen in sich selbst nicht gedankenlos an anderen Menschen oder Dingen auslebt, sich selbst verwirklicht (eigene Entschlüsse fällt) und nicht automatisch der Mehrheit folgt. Das nennen wir Autonomie.

 

»Erziehung nach Auschwitz« mit der Betonung des Wortes nach bedeutet: Das Grauen von Auschwitz ist das Grauen unserer Welt, und die Sinnlosigkeit der Grausamkeiten von Auschwitz ist die Sinnlosigkeit aller Grausamkeiten. Wenn die Jugendlichen nicht erkennen, dass das Auschwitz von einst zu unserer heutigen Welt gehört, ist die Gefahr einer Wiederholung größer, als wenn sie es begreifen. Ein zweiter Holocaust muss nicht wieder Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle, Behinderte oder andere Gruppen zum Ziel haben, die die Nazis damals als »Feinde« oder »minderwertig« betrachteten. Es können einfach abweichende Gruppen sein.

»Erziehung nach Auschwitz« mit der Betonung auf dem letzten Wort, Auschwitz, bedeutet: Die Jugendlichen müssen sich in die Täter des Holocaust hineinversetzen. Neben den Tätern gab es zwei weitere wichtige Gruppen im Kontext des Holocaust: die Opfer und die Zuschauer. Unter Zuschauern verstehen wir in diesem Zusammenhang einerseits jene, die den Nazis halfen, und andererseits die anderen, die den Verfolgten (oder Opfern) halfen, aber auch die Mitläufer und Widerständler. Um den Holocaust verstehen zu können, müssen sich die Jugendlichen in alle hineinversetzen: sowohl in die Täter, als auch in die Opfer und Zuschauer.

Da Auschwitz zu einem Symbol für vielfältige Formen der Gräuel und Aggression geworden ist, bedeutet Erziehung nach Auschwitz auch die Förderung von Empathie mit Tätern, Opfern und Zuschauern im allgemeinen. Keinem Menschen ist eine dieser drei Rollen wirklich fremd. Die Jugendlichen müssen versuchen, Einsicht in die Mechanismen, Strukturen und Umstände zu gewinnen, die Menschen während des Nationalsozialismus (und anderer ideologisch motivierter Mordgeschehnisse) zu Aggressoren und Mördern machten (beziehungsweise machen).

Dieses Fünf-Punkte-Programm legt für die Entwicklung pädagogischer Aktivitäten nahe, dass für den letzten Punkt zum Beispiel das Paradigma des Historikers Raul Hilberg für die Struktur der Vernichtung gewählt wird: Definition, Enteignung (Raub), Konzentration, Vernichtung.

Aber auch andere Schemata lassen sich zum besseren Verständnis verwenden.

Die pädagogischen Prinzipien des Fünf-Punkte-Programms sind Wärme, Empathie und Autonomie.

 

Für kleine Kinder: Erziehung nach Auschwitz ohne Auschwitz

Da sich mit dem Hamburger Verein SterniPark ein Kindergartenträger bereit gefunden hat, die Forschungs- und Arbeitsstelle »Erziehung nach und über Auschwitz« in ihrer Anfangsphase zu unterstützen, und da ich vor einem Jahr einer Tagung hier in Hamburg beiwohnen durfte, während derer die Frage diskutiert wurde, wann und wie man damit beginnen solle, Kinder mit der Geschichte des Holocaust zu konfrontieren, erlaube ich mir zu dieser Frage einige abschließende Bemerkungen:

Adorno zufolge muss Erziehung nach Auschwitz »schon in der frühen Kindheit« beginnen, aber er erwähnt nicht, wie denn eine solche Erziehung aussehen solle.

»Ich kann mir selbstverständlich nicht anmaßen, den Plan einer solchen Erziehung auch nur im Umriss zu entwerfen.«

Ausgehend von dem vorgestellten Fünf-Punkte-Programm kommen Abram und Mooren zu drei Punkten für die Erziehung nach Auschwitz für Kinder von 3 bis 10 Jahren. Es handelt sich dabei eigentlich um »Erziehung nach Auschwitz ohne Auschwitz«, eine Erziehung, in der detaillierte Darstellungen extremer Grausamkeiten unterbleiben.

Die ersten zwei Punkte des Fünf-Punkte-Programms bleiben bestehen, der dritte und fünfte fallen fort und der vierte wird verkürzt. So entsteht das folgende Drei-Punkte-Programm:

Die pädagogischen Prinzipien des Drei-Punkte-Programms für drei- bis zehnjährige Kinder stimmen mit denen des Fünf-Punkte-Programms für ältere Kinder und Jugendliche überein: es geht um Wärme, Empathie und Autonomie.